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Abmahnung – Lizenz zum kassieren

by Thomas Wendtland
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Nahaufnahme einer Hand, die ein Abmahnschreiben aus einem Umschlag zieht – mit sichtbarem Schriftzug „Abmahnung

Lizenz zum Kassieren – Wie Abmahnanwälte mit Angst und Anschuldigungen ein Geschäftsmodell betreiben
Ein Porno, 650 Euro, keine Beweise. Willkommen in einem Land, in dem Recht und Wirklichkeit oft nicht dieselbe Sprache sprechen.

Es beginnt mit einem Brief. Nichts Besonderes, denkt man. Ein Fensterumschlag, die Adresse korrekt geschrieben, innen ein Schreiben, das auf den ersten Blick wirkt wie eine Mahnung oder eine wichtige Mitteilung. Und dann trifft es einen: Es geht um Urheberrechtsverletzung. Um einen Film, von dem man nie gehört hat. Um 650 Euro, die man zahlen soll. Um eine Frist, die so knapp gesetzt ist, dass man kaum Luft holen kann. Und es geht um Angst.

Der vermeintliche Beweis? Eine IP-Adresse. Mehr nicht. Kein Screenshot, kein Zeuge, kein Beweis der Absicht. Nur eine Zahl, zugewiesen zu einem Zeitpunkt, bei einem Provider, dessen Ruf sich in Schweigen kleidet. Wer der Filmproduzent ist, bleibt oft vage. Wer die Rechte wirklich hält, unklar. Aber klar ist: Die Zahlung soll erfolgen und zwar sofort.

Willkommen in der Welt der Abmahnanwälte. Einer Paralleljustiz, die sich ihre Legitimität aus dem Paragraphenwerk zieht und ihre Kraft aus der Einschüchterung. Ein Brief ersetzt das Verfahren. Ein Vorwurf ersetzt die Wahrheit. Und ein Zahlungshinweis ersetzt das Urteil.

Das eigentlich Erschütternde: Dieses System funktioniert. Weil viele Menschen zahlen. Sie zahlen aus Angst, aus Scham und aus Unwissenheit. Und sie zahlen weil der Weg zum Gericht, zur Gegenwehr, zu einem fairen Verfahren mit hohen Kosten, Risiken und Zeitaufwand verbunden ist. Ein Risiko, das sich viele nicht leisten können – oder wollen.

Dabei ist die Beweislage oft dünn. Eine IP-Adresse kann in Zeiten von VPNs, geteilten WLANs, mobilen Endgeräten, Nachbarn im Hausflur oder Gästen im Wohnzimmer alles und nichts bedeuten. Dass Kinder auf das WLAN zugreifen, dass Besucher einen offenen Hotspot nutzen, dass ein Gerät gehackt wurde – alles möglich. Aber all das interessiert den Abmahnanwalt nicht. Seine Aufgabe ist nicht Gerechtigkeit, sondern Effizienz. Er schreibt, formuliert mit juristisch geschulter Schärfe, er fordert mit der Entschlossenheit eines Gläubigers – und am Ende kassiert er, als sei das Ganze ein sauber abgeschlossener Prozess, nicht bloß ein Schatten seiner selbst.

Digitale Beweise im Zeitalter der Anonymisierung – ein Bluff mit System

Eine IP-Adresse, eine Uhrzeit, ein Dateiname – daraus wird eine Schuld konstruiert. Wer die technische Entwicklung der letzten Jahre kennt, weiß: Das ist absurd. VPN-Anbieter, Anonymisierungsdienste, geteilte Netze und dynamische Adressvergabe machen aus einer IP einen Papiertiger. Sie kann vieles andeuten, aber nichts beweisen.

Und dennoch gilt sie in vielen Verfahren als Grundlage für Mahnungen, Zahlungsaufforderungen, ja sogar Klagen. Der Bluff ist Teil des Systems. Denn die Kanzleien wissen: Die wenigsten werden sich wehren. Wer einen Anwalt einschaltet, zahlt mehr, wer es nicht tut, zahlt vielleicht weniger, aber mit Zittern.

So entsteht eine perfide Win-Win-Situation – nur eben nicht für den Beschuldigten. Der verliert Geld, Zeit, Nerven – und nicht selten den Glauben an das Recht. Manch einer kann diesem System kaum noch etwas abgewinnen, denn es offenbart sich als ein Werkzeug der Spaltung: hervorgebracht nicht durch Gesetzesnotwendigkeit, sondern durch die Gier Einzelner, die bereit sind, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu opfern, solange sich daraus Kapital schlagen lässt.

Der blinde Fleck: Wenn Provider zu Gehilfen werden

„In Deutschland reicht manchmal eine IP-Adresse, um dich zum Täter zu machen. Willkommen im Neuland der Gerechtigkeit.“

Es wäre naiv zu glauben, dass dieses Geschäftsmodell nur auf Seiten der Kanzleien funktioniert. Auch die Internetprovider tragen ihren Teil dazu bei. In ihren Datenschutzbedingungen finden sich oft Klauseln, die es ermöglichen, Verbindungsdaten weiterzugeben – auch ohne richterlichen Beschluss. Besonders brisant: Die Deutsche Telekom, als ehemaliger Staatsbetrieb, ist einer der Hauptdatenlieferanten. Mit einer Haltung, die irgendwo zwischen Gleichgültigkeit und Geschäftssinn rangiert.

Die Frage, ob die Übermittlung von IP-Zuordnungen immer korrekt erfolgt, bleibt offen. Der Betroffene hat keine Einsicht. Keine Kontrollmöglichkeit. Keine Chance, die Behauptung zu widerlegen. Und genau das ist Teil des Spiels: Behaupten statt Beweisen, Einschüchtern statt Aufklären – und wenn man nachfragt, laufen die Antworten ins Leere, werden mit Floskeln abgekanzelt oder gar mit Polemik erwidert. Auch das ist ein Ausdruck jener Haltung, die sich längst verselbständigt hat: der Haltung eines Berufszweigs, der sich mehr an die Gepflogenheiten einstiger Staatsdiener erinnert als an das Ideal des Dienstes am Bürger.

Familiäre Geflechte und doppelte Kasse

Was wie ein schlechter Witz klingt, ist in Wahrheit ein kalkulierter Karriereplan: Einige Abmahnanwälte haben ihr Geschäftsmodell so optimiert, dass sie gleich doppelt verdienen. Zuerst über die Abmahnung – formaljuristisch fein abgeschirmt durch Kanzleibriefkopf und Gesetzesverweise. Und dann ein zweites Mal, durch das angeschlossene Inkassounternehmen, das „zufällig“ auf den Namen der Ehefrau, des Bruders oder eines „Verwandten dritten Grades“ läuft.

So wird aus einer fragwürdigen Forderung ein Familienunternehmen. Die Mahnung kommt vom Anwalt, die Drohung vom Inkasso – der Geldfluss bleibt in der Familie. Und der moralische Abgrund wird zur Geschäftsbasis.

Dabei geht es selten um Recht, fast nie um Gerechtigkeit – sondern um Routine. Kalkuliert. Kalt. Wiederholbar. Und mit einem System, das auf Einschüchterung basiert und auf juristischem Halbschatten gedeiht.

Ein Systemfehler mit Ansage

Die sogenannte Störerhaftung, einst das juristische Fundament für die Abmahnwelle, wurde vor Jahren aufgeweicht. Der politische Wille schien klar: Schluss mit der Abzocke. Doch was ist passiert? Nichts. Oder zu wenig. Die Gesetze wurden angepasst, doch die Praxis blieb. Neue Wege wurden gefunden, alte Methoden leicht modifiziert. Das System lebt weiter. Vielleicht mit anderem Anstrich, aber gleichem Ziel.

Abmahnanwälte sind keine Einzelfälle. Sie sind Teil einer Industrie. Und diese Industrie folgt der Logik des Marktes: Wo Geld fließt, wird geschrieben. Massenschreiben, automatisiert, standardisiert. Die Empfänger? Egal. Hauptsache, ein paar zahlen.

Wenn Recht zur Ware wird

Was hier geschieht, ist keine juristische Feinheit, sondern ein Angriff auf das Rechtsverständnis. Wenn Vorwürfe ohne Beweise, wenn Drohbriefe ohne Kontrolle, wenn Forderungen ohne Gerichtsbeschluss als Mittel der Durchsetzung gelten, dann haben wir ein Problem. Es ist weder ein rein technisches noch ein bloß juristisches Problem – es ist ein gesellschaftliches Versagen, das wir längst als solches benennen müssten.

Denn Recht wird zur Ware. Zur Massenware. Und der Anwalt, der einst Verteidiger war, wird zum Einforderer. Nicht mehr als ein Algorithmus mit Briefkopf. Das Schreiben ist die Ware, die Angst der anderen ihr Wert – eine virtuelle Angelegenheit, im Grunde genommen so flüchtig wie Feenstaub, nicht greifbar, kaum nachweisbar, aber dennoch in klingende Münze verwandelbar, sobald sie juristisch in einen Briefumschlag gegossen wird.

Ein Aufruf an die Politik

Dass dieser Zustand möglich ist, ist kein Zufall. Es ist ein Versäumnis. Ein politisches. Ein strukturelles. Und ein moralisches. Wenn ein ganzer Berufsstand – nicht alle, aber zu viele – sich in den Dienst eines Systems stellt, das aus Verdacht Gewinn macht, dann braucht es Regulierung, Mut und klare Grenzen – sowie Politikerinnen und Politiker, die sich diesem Problem wirklich stellen. Doch gerade hier liegt ein weiteres Dilemma: In der Politik sitzen nicht selten ehemalige Anwälte, die herausgefunden haben, wie man durch juristische Finesse an Diäten kommt und sich den Lebenslauf mit Mandaten veredelt. Der Wähler darf kaum erwarten, dass jemand aufsteht, ans Rednerpult tritt und den Mut hat, diese gesamte Berufskaste unter die Lupe zu nehmen und die überzogenen Forderungspraktiken per Gesetz zu verbieten. Man könnte es – aber die alte Krähenweisheit gilt auch hier: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.

Abmahnanwälte brauchen keine neuen Vorlagen. Sie brauchen Kontrolle. Und Schranken. Und im Zweifelsfall: Sanktionen. Wer ohne Beweis schreibt, wer mit Druck kassiert, wer Drohungen massenhaft verschickt, sollte keine Zulassung behalten. So einfach scheint es – so grundlegend wäre es – und so notwendig ist es, wenn man verhindern will, dass Recht weiter zur Beute der Geschäftstüchtigen wird.

Ein kaputtes Rechtssystem, was missbraucht werden kann

Im Namen des Volkes geht man auf den Bürger los, als gäbe es kein Morgen mehr. Dabei steht am Ende nicht einmal ein Urteil, doch es bleibt eine überdimensionierte Rechnung. Eine Orgie der Gier im Namen des Gesetzes. Ein Porno für 650 Euro ist nicht nur ein schlechter Deal. Er ist ein Symptom. Für ein kaputtes System. Für eine Rechtsprechung, die sich technischer Entwicklung verweigert. Für eine Politik, die wegsieht. Und für eine Gesellschaft, die schweigt, solange sie nicht selbst betroffen ist.

Es bleibt auch die Frage: Tragen Anwälte nicht eine besondere Verantwortung? Oder haben sie nur studiert, um das Maximum an Profit aus dem Rechtssystem zu schlagen? Kennen diese Menschen überhaupt noch das Wort Anstand?

ⓘ Was tun bei Abmahnung?

Wenn Sie ein Abmahnschreiben erhalten haben, gilt: Ruhe bewahren.

  • Nichts unterschreiben.
  • Nicht vorschnell zahlen.
  • Fristen einhalten, aber rechtlichen Rat einholen.
  • Hilfe bei spezialisierten Kanzleien oder Verbraucherschutz suchen.

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Einzelfall ja – Generalverdacht nein.

Selbstverständlich müssen Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Auch im digitalen Raum gilt: Wer Software, Filme oder Texte stiehlt, begeht eine Straftat, die nicht folgenlos bleiben darf. Doch der berechtigte Schutz geistigen Eigentums darf nicht in ein System umschlagen, das jeden Bürger beim Einschalten seines Geräts unter Generalverdacht stellt. Als Journalisten sehen wir es als unsere Aufgabe, diesen strukturellen Missstand immer wieder zu benennen – klar, laut und unmissverständlich.

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