Ein Gesetz für alle – und endlich auch für die, die sonst übersehen werdenAm 28. Juni wird Barrierefreiheit zur Pflicht: Was das neue BFSG wirklich bedeutet
Die Dinge, die man nicht sieht
An einem durchschnittlichen Werktag reihen sich Menschen vor einem Bankautomaten auf, als würden sie gleich eine Eintrittskarte in die Normalität ziehen. Manche sind hastig, manche zögerlich, die meisten schweigen. Die Interaktion mit dem Gerät dauert oft nicht länger als sechzig Sekunden – und doch erzählt sie viel über ein System, das jahrzehntelang nicht für alle gemacht war.
Denn was für die einen ein banaler Akt ist – Geld abheben, Kontostand prüfen, Pin eintippen –, ist für andere ein Parcours durch Technik, Sprache und Barrieren. Nicht immer sichtbar, nicht immer laut beklagt, aber dauerhaft präsent. Menschen im Rollstuhl, mit eingeschränktem Sehvermögen, mit kognitiven oder auditiven Beeinträchtigungen – sie alle kämpfen um den Zugang zu etwas, das die Gesellschaft längst als selbstverständlich erklärt hat: finanzielle Teilhabe.
Am 28. Juni 2025 ändert sich dieser Zustand – zumindest auf dem Papier. Mit dem Inkrafttreten des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) verpflichtet sich die Europäische Union, nicht weniger als einen neuen Standard des Zugangs zu setzen. Einen Standard, der Menschen nicht mehr an Technik scheitern lässt. Der ihnen nicht mehr sagt: „Du bist hier nicht vorgesehen.“ Und der der Idee von Inklusion mehr gibt als warme Worte und bunte Broschüren.
Technik, die nicht nachdenkt
Was sich so nüchtern liest – ein Gesetz, ein Datum, ein Ziel –, ist in Wahrheit eine Revolution an der Peripherie des Alltags. Das Gesetz schreibt keine Empathie vor, aber es erzwingt erstmals eine Gestaltung, die dem Menschen zugewandt ist. Und dieser Mensch ist nicht länger nur der stehende, sehende, hörende Durchschnittsverbraucher, sondern auch der Greis, die Sehbehinderte, der Rollstuhlfahrer, das Kind mit Leseeinschränkungen.
Was konkret verändert wird? Die Liste ist kompakt, aber entscheidend:
Größere, kontrastreichere Displays mit verbesserter Benutzerführung
Rollstuhlgerechte Bedienelemente in passender Höhe
Sprach- und Audioausgabe für Menschen mit Sehbehinderungen
Taktile Markierungen auf der Tastatur zur besseren Orientierung
Leicht verständliche Texte, vereinfachte Menüs, Möglichkeit zur Textvergrößerung
Und das ist nur der Anfang. Denn das BFSG beschränkt sich nicht auf Geldautomaten. Es gilt für eine ganze Bandbreite von Geräten und Diensten, deren Zugänglichkeit bislang oft Glückssache war. Auch Zahlungsterminals, Fahrausweisautomaten, Check-in-Automaten fallen darunter – ebenso wie E-Book-Reader, Webseiten und Apps des öffentlichen Verkehrs, sogar Software für Online-Shops und elektronischer Ticketverkauf.
Noch einmal, in der für Brüssel typischen Sprache zusammengefasst, betrifft es:
Hardwaresysteme inkl. Betriebssysteme
Selbstbedienungsterminals: Zahlung, Geld, Fahrausweis, Check-in, Info
Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang
E-Book-Lesegeräte
Telekommunikationsdienste
Elemente von Personenbeförderungsdiensten: Webseiten, Apps, Tickets, Informationen, Terminals
Bankdienstleistungen für Verbraucher
E-Books und zugehörige Software
Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr
Ein Gesetz, das so viele Lebensbereiche betrifft, dass man sich wundert, wie lange man sich mit der alten Unzugänglichkeit überhaupt arrangiert hat.
Das Versprechen der Zugänglichkeit
Natürlich ist auch dieses Gesetz kein Heilsbringer. Es ist ein politischer Versuch, Gleichheit zu kodifizieren – mit technischen Mitteln. Und wie bei allen technischen Lösungen stellt sich die Frage: Wird das, was nun vorgeschrieben wird, auch tatsächlich umgesetzt? Wird der Automat an der Ecke in Greifswald dieselben Standards erfüllen wie der in der Filiale in Köln? Wird das Bahnticket an einem lauten Automaten in Frankfurt tatsächlich von einer Stimme begleitet, die man verstehen kann – auch wenn man nicht gut hört, nicht gut sieht oder einfach überfordert ist?
Die Kritik an dieser neuen Regelung wird kommen – zu teuer, zu aufwändig, zu kompliziert. Dabei wäre es nur ehrlich, zuzugeben, dass wir es uns vorher zu einfach gemacht haben. Dass wir die digitale Welt mit derselben Gedankenlosigkeit gebaut haben wie die architektonische: für die Mehrheit. Für die Schnellsten. Für die, die keine Hilfe brauchen – oder es sich zumindest einbilden.
Dabei zeigt sich im barrierefreien Design oft erst das wahre Niveau einer Gesellschaft. Wer Technik für alle gestaltet, schafft nicht nur Gerechtigkeit, sondern oft auch Qualität. Denn was für Menschen mit Behinderung funktioniert, funktioniert meist auch für Menschen mit vollen Einkaufstaschen, mit Kinderwagen, mit gebrochenem Arm – mit Zeitdruck, Stress, Müdigkeit. Barrierefreiheit ist keine Sonderlösung. Sie ist gute Gestaltung.
Und sie ist längst überfällig. Wenn Menschen jahrzehntelang vor Automaten stehen mussten, die sie nicht bedienen konnten, ist es kein Fortschritt, sondern das Ende eines jahrzehntelangen Versäumnisses, wenn sich das nun ändert.
Dass dieses Gesetz kommt, ist daher keine Heldentat der Politik. Es ist ein Nachsitzen in Sachen Menschlichkeit.
Der Automat als Spiegel
Vielleicht ist der Geldautomat der unauffälligste Spiegel unserer Zeit. Er steht an Bahnhöfen, Tankstellen, im Halbschatten von Bürogebäuden. Und doch entscheidet sich an ihm, wer Zugang hat – nicht nur zu Geld, sondern zur Teilhabe. Denn wer kein Geld abheben kann, weil er den Automaten nicht bedienen kann, bleibt außen vor. Nicht symbolisch, sondern ganz real.
Mit dem BFSG wird dieser Spiegel poliert. Nicht für Glanz, sondern für Klarheit. Er zeigt nun auch jene, die bisher hinter den technischen Möglichkeiten zurückbleiben mussten. Er zeigt, dass man sich auf Dauer nicht damit begnügen kann, Menschen durch Technik auszuschließen – und dass jedes Drücken einer Taste auch ein Akt gesellschaftlicher Anerkennung sein kann.
Am Ende ist Barrierefreiheit nichts, was sich auf Technik beschränken ließe. Es ist eine Haltung. Eine Einladung. Eine Selbstverständlichkeit, die zu lange keine war.
Es ist wichtig – das sei der Politik zugestanden –, dass sie handelt, dass sie Gesetze schafft und Standards formuliert. Aber es ist ebenso wichtig, dass sie es nicht im Tempo der Verwaltung tut. Denn die Zeiträume, in denen Änderungen greifen sollen, sind oft zu lang bemessen. Schon heute kann eine 84-jährige Frau, die ihren Enkel besuchen möchte und dafür etwas Bargeld braucht, am Automaten ins Tüdeln geraten. Wenn dann niemand hilft, keine Person zur Seite steht, kann es schnell teuer werden – durch Fehlbuchungen, doppelte Abhebungen, gesperrte Karten. Noch immer bauen Banken ihren Service zurück, oft drastisch, oft mit der Chuzpe, dies als Digitalisierung zu feiern. Dabei ist der persönliche Kontakt gerade im Zahlungsverkehr nicht Luxus, sondern Notwendigkeit. Die Banken täten gut daran, nicht auf Kosten der Schwächsten zu wirtschaften – nicht auf Kosten derer, die sie über Jahrzehnte mit Vertrauen und Sparbuch durch alle Krisen getragen haben.
Am 28. Juni 2025 beginnt also nicht einfach ein neues Gesetz. Es beginnt – vielleicht – eine neue Gewohnheit: hinzusehen, wo wir bisher vorbeigeschaut haben. Und Geräte zu bauen, die nicht nur funktionieren, sondern verstanden werden. Von allen.
ⓘ Infokasten
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) tritt am 28. Juni 2025 in Kraft und setzt EU-Vorgaben zur Barrierefreiheit in deutsches Recht um. Es betrifft unter anderem Geldautomaten, Zahlungsterminals, Fahrkartenautomaten, E-Book-Reader, Bankdienstleistungen und Online-Shops. Ziel ist es, Menschen mit Behinderungen einen gleichwertigen Zugang zu digitalen und physischen Dienstleistungen zu ermöglichen.
🔍 Quellen-Nachweis
Verordnung (EU) 2019/882 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen
Bundesministerium für Arbeit und Soziales – Informationen zum BFSG
Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) – Stellungnahmen zur Barrierefreiheit
Bundesbank – Statistik zur Filialdichte und SB-Automaten in Deutschland
EU-Kommission – Leitlinien zur Umsetzung des European Accessibility Act