Immer häufiger lässt sich beobachten, dass nachwachsende Generationen mit erheblichen Defiziten in Wort und Schrift aufwachsen. Diese Schwächen können durch Künstliche Intelligenz zwar scheinbar ausgeglichen werden – doch der Preis ist hoch: eine Welt, in der standardisierte Texte das Denken ersetzen. Eine Welt, in der Originalität verkümmert, weil Formate wichtiger werden als Inhalte.
Nicht TikTok ist das Problem. Die Krise beginnt früher – dort, wo Menschen in der modernen Welt kaum noch über grundlegende Lese- und Schreibkompetenzen verfügen. In Schulen, in Familien, in der Gesellschaft. Die Schuld tickt nicht im Smartphone, sondern im System. Denn während das Bildungssystem noch über digitale Tafeln und neue Lernmethoden diskutiert, zeigen die Fakten: Immer mehr junge Menschen können weder sinnerfassend lesen noch strukturiert schreiben. Und das betrifft längst nicht nur bildungsferne Milieus oder neu Zugewanderte – es zieht sich bis in die gymnasiale Oberstufe hinein. Dann ein Daumen. Dann ein Lächeln. Oder ein Schockgesicht. Und noch ein Wisch. Die Nutzer:innen sozialer Netzwerke wie TikTok leben in einer Welt, in der Inhalte nicht mehr gesucht, sondern serviert werden. Wer sich bewegt, bleibt im Bild. Wer stillhält, verschwindet. Es ist eine Welt voller Clips, deren Halbwertszeit im Sekundenbereich liegt. Doch was bleibt davon hängen? Und was verschwindet – nicht im Feed, sondern im Kopf?
Vom Lesen zum Scrollen: Die neue Grammatik des Alltags
Die Fähigkeit, komplexe Texte zu verstehen, galt lange als Grundbedingung für gesellschaftliche Teilhabe. Heute, inmitten der digitalen Dauerbeschallung, beobachten Lehrer:innen, Bibliothekar:innen und Bildungsforscher:innen ein anderes Phänomen: Jugendliche lesen weniger. Und wenn sie lesen, dann nicht mehr zusammenhängende Texte, sondern Untertitel, Memes, Kommentarspalten. Das Leseverstehen nimmt laut mehreren Studien stetig ab – ein Trend, den auch die Bildungsforscherin Nele McElvany in einer PISA-Auswertung bestätigt: „Die Abwärtsspirale hat sich fortgesetzt.“
Dazu kommt eine schulische Realität, die von vielen als überfordert beschrieben wird. Inklusion, Migration, Lehrermangel – das Dreigestirn der bildungspolitischen Gegenwart. Besonders in Grundschulen ist die Sprachvermittlung zur Herkulesaufgabe geworden. Nicht, weil Kinder weniger begabt wären, sondern weil das System nicht mehr mithalten kann. Lehrpläne, die aus der Zeit gefallen wirken, treffen auf Realitäten, in denen ein Kind mit Deutsch als Muttersprache zur Ausnahme wird.
Selbst bei Abiturient:innen stellen Universitäten inzwischen gravierende Defizite fest – nicht nur im Ausdruck, sondern auch im Textverständnis, im Argumentieren und in der Fähigkeit, komplexe Inhalte zu strukturieren. Was früher als selbstverständlich galt, wird heute als Zusatzqualifikation gehandelt.
Schule im Wandel: Zwischen Kreidezeit und KI
Karin Prien, Bildungsministerin und CDU-Vordenkerin in Sachen Schulpolitik, wirbt für „moderne Bildungssysteme“. Doch was modern ist, bleibt oft diffus. Zwischen interaktiven Whiteboards und gendergerechter Sprache verpufft das Wesentliche: der Aufbau von Lesekompetenz, das Fundament jeder Form von Bildung. Ohne sie bleibt auch das schönste Bildungstablet ein schwarzer Spiegel.
Die Alten erinnern sich: Diktate mit Füllfederhalter, Lesen aus dem Lesebuch, Hausaufgaben im karierten Heft. Die Jungen erleben: Gruppenarbeit mit Tablets, Multiple-Choice, Sprachlernapps. Beide Systeme haben ihre Berechtigung. Aber der Sprung dazwischen ist zu groß geworden. Wenn KI heute schon Aufsätze schreibt, stellt sich die Frage: Wozu noch lernen zu schreiben? Die Antwort ist simpel und alt: Weil Denken Sprache braucht. Und Sprache Denken formt.
TikTok, KI und die Illusion von Teilhabe
TikTok ist nicht Ursache, sondern Symptom. Die Plattform folgt einer Logik, die Aufmerksamkeit in Klicks und Reichweite umwandelt. Bildung jedoch ist kein viraler Prozess. Sie ist langsam, widerspenstig, oft unbequem. Zwischen diesen Polen liegt ein Graben, den auch moderne Lehrer:innen kaum überbrücken können – nicht ohne neue Konzepte, neue Werkzeuge, neue gesellschaftliche Prioritäten.
Denn was passiert, wenn eine Generation mehr weiß, wie man ein Video schneidet, als wie man ein Argument formuliert? Wenn Leseverstehen durch visuelle Reizüberflutung ersetzt wird? Die Antwort liegt in den Zahlen.
Laut Statista lag der Anteil der Schülerinnen und Schüler in Deutschland mit nur elementaren Lesekompetenzen im Jahr 2022 bei rund 25 % in der Altersgruppe der 15-Jährigen. Das bedeutet: Jeder vierte Jugendliche hat Schwierigkeiten, einfache Texte zu verstehen. Besonders betroffen sind Großstädte, Ballungsräume mit hoher Migrationsdichte sowie Bundesländer mit chronischem Lehrkräftemangel. (Quelle: statista.de)
Was also tun? Die Antwort liegt nicht in der Rückkehr zu alten Methoden, sondern im bewussten Einsatz neuer. KI kann dabei helfen, individualisierte Lernangebote zu schaffen. Sie kann Texte vereinfachen, Sprachniveaus anpassen, fördern statt nur filtern. Doch sie darf kein Ersatz sein. Die Lehrkraft bleibt zentral – als Mensch, als Resonanzkörper, als Anker.
Wer die Bildungsdebatte auf Symbole wie das Gendersternchen reduziert, hat die eigentlichen Herausforderungen nicht verstanden. Es geht nicht um Ideologie, sondern um Zukunftsfähigkeit. Und diese beginnt – immer noch – beim Lesen.
Wenn wir nicht in einer Welt leben wollen, in der die KI die Geschichten schreibt und wir alle die gleichen Idealstandard-Texte bekommen, sollten wir tunlichst daran denken, die Literatur nicht zu vernachlässigen – auch im Bildungssystem nicht. Denn Geschichten entstehen im Kopf. Und wenn man die nicht zu Papier bringen kann, nutzt eine KI auch nichts.
ⓘ Lesekompetenz im Sinkflug: Laut Statista lag der Anteil der Schülerinnen und Schüler in Deutschland mit nur elementaren Lesekompetenzen im Jahr 2022 bei rund 25 % in der Altersgruppe der 15-Jährigen. Besonders betroffen sind Großstädte, Ballungsräume mit hoher Migrationsdichte sowie Bundesländer mit chronischem Lehrkräftemangel.
Quellen-Nachweis: Statista: Statista Lesekompetenz – © statista.de · Nele McElvany, Bildungsforschung TU Dortmund, zit. nach Süddeutsche Zeitung · PISA-Studie 2022: OECD-Bericht zu Lesekompetenzen in Deutschland · Kultusministerkonferenz (KMK): Jahresbericht Bildung in der digitalen Welt 2023