New York ist eine Stadt, in der fast alles möglich scheint. Sie nimmt es mit jeder Weltlage auf, mit allen Krisen, mit Lärm und Wind und der Unmöglichkeit, stehen zu bleiben. Dass sich ausgerechnet hier ein Segelschiff rückwärts durch eine der stärksten Strömungen der amerikanischen Ostküste bewegt und sich dann unter der Brooklyn Bridge verkeilt, klingt nach einem absurden Zwischenfall. Es war aber keiner. Es war Realität, und sie war tödlich.
Die Cuauhtémoc, ein stolzes Segelschulschiff der mexikanischen Marine, lag mehrere Tage am South Street Seaport, dem Ort, an dem New York sich an seine eigene Seefahrtsgeschichte erinnert. Hier treffen Touristen auf Möwen, historische Masten auf Containerkräne. Am 17. Mai 2025 gegen Abend sollte die Cuauhtémoc ihre Reise fortsetzen – Island war das nächste Ziel. Der Wind war mäßig, das Wasser tückisch, wie fast immer im East River. Die Strömung läuft hier wie ein Muskel durch den Stadtleib, schwer vorhersehbar, oft unterschätzt.
Kurz nach dem Ablegen trat ein technischer Defekt auf. Ein Ruderversagen, hieß es später. Die Maschine reagierte nicht. Das Schiff begann, rückwärts zu treiben. Nicht langsam, nicht harmlos, sondern mit zunehmender Wucht – in Richtung einer Brücke, die täglich von hunderttausenden Menschen überquert wird. Die Brooklyn Bridge kann viel aushalten. Sie wurde für den Fortschritt gebaut, nicht für die Rückwärtsfahrt eines Segelschiffs.
Zwei Menschen an Bord kamen ums Leben. Eine junge Kadettin war unter den Toten. Über zwanzig wurden verletzt. Der Rest stand unter Schock, ebenso wie die Menschen, die von der Brücke hinunterblickten und erst dachten, sie sähen ein Schauspiel, vielleicht eine Inszenierung. Es war keine.
Ein Lotse war an Bord. Die Besatzung war erfahren. Das Schiff hatte die Strecke nicht zum ersten Mal passiert. Auch ein Schlepper war vor Ort, allerdings nur kurz. Es ist genau dieses kurze, knappe Detail, das in den Tagen danach an Bedeutung gewann. Der Schlepper – laut Plan zuständig bis zum sicheren Manövrierausgang – hatte das Schiff zu früh verlassen. Vielleicht, weil man dachte, dass alles schon laufe. Vielleicht, weil es immer so gemacht wurde. Vielleicht, weil niemand widersprach. In Gewässern wie dem East River kann jede dieser Erklärungen tödlich sein.
Es ist einfach, danach zu sagen, was falsch lief. Die Technik versagte. Die Koordination auch. Die Lage wurde unterschätzt. Doch das erklärt nicht, warum ein bewährtes Schulschiff sich plötzlich in einer Situation wiederfindet, die es weder kontrollieren noch vermeiden kann. Die Antwort liegt in der Systemlogik: Prozeduren, Zeitpläne, Routinen – alles funktioniert, bis etwas aus dem Takt gerät. Dann zeigt sich, wie wenig Fehlertoleranz vorgesehen ist.
Die New Yorker Polizei sicherte das Gebiet. Die US-Küstenwache übernahm die Untersuchung. Die Brücke war für kurze Zeit gesperrt, wurde aber als unbeschädigt freigegeben. Auch das ist Teil der Erzählung: Die Infrastruktur überlebte, die Menschen an Bord nicht. In gewisser Weise ist das typisch für moderne Logiken – was zählt, ist, dass der Verkehr wieder rollt.
Die Cuauhtémoc liegt nun wieder an einem Pier. Beobachtet, befragt, untersucht. Sie ist beschädigt, aber nicht zerstört. Sie wird wohl repariert und eines Tages wieder auslaufen. Vielleicht leiser, vielleicht mit verändertem Manöverprotokoll. Vielleicht auch nicht. Denn Schiffe vergessen nicht, aber Menschen tun es schnell.
Und doch bleibt ein Satz im Raum, der sich nicht mehr abmoderieren lässt: Wäre der Schlepper an ihrer Seite geblieben, hätten zwei junge Menschen noch gelebt.
Die Verantwortung ist schwer zu greifen. Formal liegt sie auf vielen Schultern, praktisch auf keiner. Wer ein Schiff führt, trägt Verantwortung, heißt es. Doch was, wenn die Technik nicht mehr folgt? Wenn die Entscheidung über Begleitung und Unterstützung längst an anderer Stelle getroffen wurde? Wenn Routine gefährlich wird, weil niemand sie mehr in Frage stellt?
Die Cuauhtémoc war nicht allein unterwegs. Sie wurde beobachtet, begleitet, gefilmt. Am Ufer standen Menschen, mit Mobiltelefonen, mit Erwartungen, mit dem Gedanken: „So ein schönes Schiff, das sieht man selten.“ Es war ein symbolischer Moment, wie es viele gibt in dieser Stadt, in der das Alte neben dem Hypermodernen steht. Doch niemand rechnete mit einem Rückwärtslauf, mit einem Schiff, das nicht tut, was es soll – ausgerechnet an einem Ort, an dem Zentimeter über Aufprall und Abstand entscheiden.
Die Brücke steht. Die Fragen bleiben. Und auch wenn in offiziellen Statements von unglücklichen Verkettungen die Rede war, von Pech, von Einzelfall – es wäre zu billig, das so stehen zu lassen. Denn dieser Fall war möglich, weil ein System versagte, das auf Planbarkeit gebaut ist. Wenn der Strom stark ist, hilft kein Zeitfenster. Wenn die Technik streikt, hilft keine Vorschrift. Und wenn der Mensch nur noch abnickt, statt zu begleiten, hilft keine Ausbildung.
Vielleicht ist dieser Vorfall eine Mahnung, leise genug, dass man sie im Lärm der Stadt schnell wieder überhören kann. Vielleicht ist er aber auch ein Einschnitt – für einen Moment jedenfalls, in dem sichtbar wurde, wie fragil maritime Sicherheit sein kann, wenn sie auf Selbstverständlichkeit beruht.
Denn dieses Schiff war nicht alt, nicht marode, nicht unterbesetzt. Es war vorbereitet, geübt, begleitet. Und dennoch hat es nicht gereicht. Nicht, weil jemand versagte, sondern weil niemand widersprach. Weil ein Ablauf abgerufen wurde, ohne zu prüfen, ob er heute noch gilt. Die Cuauhtémoc ist nicht an einem Felsen zerschellt, sondern an der Realität urbaner Strömungsverhältnisse. Sie ist nicht gesunken, aber ihre Sicherheit wurde untergraben – von einem blinden Vertrauen auf Gewohntes.
Das sollte man nicht vergessen, wenn das nächste Schiff ablegt – und besser wäre, man würde künftig genauer hinsehen, alle Parameter prüfen, statt sich auf Routine zu verlassen. Denn das nächste Ereignis lässt sich vielleicht vermeiden, wenn man rechtzeitig damit rechnet.
ⓘ Die Cuauhtémoc ist ein Segelschulschiff der mexikanischen Marine, das seit 1982 in Betrieb ist. Es handelt sich um eine Bark mit drei Masten und rund 90 Metern Länge. Die Masten ragen bis zu 48 Meter hoch. Gebaut wurde das Schiff in Bilbao (Spanien). Es dient der Ausbildung von Offiziersanwärtern und wird auch zu diplomatischen Anlässen in Häfen weltweit eingesetzt. Die Besatzung besteht aus über 200 Personen, darunter viele Kadetten. Die Cuauhtémoc war bereits mehrfach in europäischen und nordamerikanischen Häfen zu Gast.