Es beginnt wie ein billiges Sommerdrama, aufgeschrieben von sensationslüsternen Köpfen, die lieber auf den nächsten Knalleffekt setzen als auf nüchterne Fakten. Ein Badesee irgendwo im Süden der Republik, ein Musikfestival am Ufer, betrunkene Festivalbesucher, die sich im Wasser Abkühlung verschaffen, lautes Gedröhne aus den Boxentürmen, strampelnde Beine im Flachwasser.
Und mittendrin ein Fisch. Ein Europäischer Wels, nicht größer als ein Teenager-Kajak, jedoch offenbar groß genug, um in den Köpfen der Menschen sofort die apokalyptischen Bilder eines Monsterfisches zu wecken.
Dieser Wels, so hieß es in den Schlagzeilen, habe Badegäste angegriffen, sie in die Flucht gejagt, Kinder traumatisiert, Menschen vor Schmerzen zuckend ans Ufer getrieben, geradezu verschlungen wie ein Krokodil seine Beute. Die Polizei eilte herbei, mit Blaulicht und gezogener Dienstwaffe, und drei Kugeln aus der 9-Millimeter-Pistole besiegelten schließlich das Schicksal des vermeintlichen Killers aus der Tiefe. Ein Drama, perfekt inszeniert für alle, die ihren täglichen Adrenalinschub aus den Schlagzeilen saugen.
Doch was bleibt, wenn man die Wogen der Panik einmal glättet und genau hinsieht?
Ein ganz normaler Fisch im falschen Film
Der Europäische Wels ist in Wahrheit ein eher ruhiges, zurückgezogenes Tier. Er ernährt sich von Fischen, Fröschen, gelegentlich kleinen Wasservögeln, doch Menschen stehen nicht auf seinem Speiseplan, auch nicht betrunkene Festivalbesucher mit Neonbändchen um den Arm. Er hat keine rasiermesserscharfen Haifischzähne, sondern breite Kieferplatten, die höchstens quetschen, im Zweifel ein paar blaue Flecken oder Schürfwunden hinterlassen.
Dass er überhaupt zuschnappt, ist schnell erklärt: Der Wels verteidigt in diesen Wochen seinen Nachwuchs. Und bemerkenswerterweise tut das beim Wels nicht die Mutter, sondern der Vater – eines der seltenen Rollenmuster in der Natur, in dem das Männchen das Gelege bewacht und gegen Eindringlinge verteidigt. Wenn dann Hunderte badende Beine in sein Revier pflügen, laute Bässe das Wasser zum Vibrieren bringen und eine feuchtfröhliche Menschenmasse sich in seinem Laichgebiet tummelt, darf es niemanden wundern, wenn der Fisch einmal zuschnappt.
Selbst das ist kein Grund zur Hysterie. Keine abgerissenen Gliedmaßen, keine schwerverletzten Opfer, keine Lebensgefahr. Maximal ein aufgeschürftes Schienbein und ein paar verängstigte Kinder, die in der kommenden Woche vielleicht etwas vorsichtiger ins Wasser gehen.
Doch statt diesen simplen Sachverhalt zu prüfen, wurde der Polizeieinsatz zu einem kleinen Sommerkriegsdrama aufgeblasen.
Behördenversagen in Reinkultur
Was den Fall besonders absurd macht, ist die bürokratische Maschinerie, die in Gang gesetzt wurde. Ein Bademeister sieht einen Wels, bekommt Angst, ruft die Wasserwacht. Die Wasserwacht ruft die Polizei. Und irgendwo in dieser langen Kette von Ansprechpartnern, Referenten, Sachbearbeitern und Vorgesetzten hätte doch irgendjemand auf die Idee kommen können, einen Experten zu fragen. Einen Angler, einen Fischereibiologen, irgendjemanden, der sich mit der Natur auskennt.
Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen beschloss man, die Bedrohung martialisch zu lösen, mit drei Kugeln in den Leib des Fisches. Dabei wäre die einfachste Maßnahme kaum aufwendiger gewesen als ein Spaziergang um den See: Ein laminiertes Schild, vier schwimmende Bojen, ein Hinweis im Festival-Programm, dass dort gerade ein Gelege liegt und der Bereich zu meiden ist. Zwei Stunden hätte es gedauert, nicht mehr. Drei Wochen lang, während der Nachwuchs schlüpft und verschwindet, wäre der Wels in Ruhe geblieben und die Badegäste hätten keinerlei Gefahr gespürt.
Doch offenbar gilt im Behördendenken bis heute: Vorsicht ist gut, Schießen ist besser.
Was besonders beunruhigt, ist die Parallelität zu anderen Fällen, bei denen Polizei und Behörden auf Überforderung setzen statt auf Verstand. Es reicht, an den nächsten verwirrten Mann mit einem Küchenmesser zu denken, der in jüngster Zeit ebenfalls oft einfach erschossen wurde, weil niemand sich zutraute, ihn zu beruhigen oder zu entwaffnen. Das Muster wiederholt sich erschreckend oft: Statt Wissen, statt Kommunikation, statt Respekt vor dem Leben greift man lieber zur Waffe.
Eine Polizei, die nichts begriffen hat
Der Polizeisprecher sprach später von einem „atypischen Verhalten“ des Fisches. Man vermute, so das Zitat, dass der Wels ein Nest verteidigt habe. Allein dieses Wort zeigt, wie wenig Ahnung in diesem Einsatz steckte. Ein Fisch hat kein Nest, er hat ein Gelege. Und das Verhalten war alles andere als atypisch: Es war vollkommen normal, dass ein Vater seinen Laich bewacht. Atypisch war allein die menschliche Vorstellungskraft, die aus einem laichbewachenden Fisch einen Killer machte.
Man muss sich ernsthaft fragen, wie Beamte, die für viel Geld ausgebildet und besoldet werden, solch einen fundamentalen Irrtum begehen können. Wie kann eine Polizei, die eigentlich die Bevölkerung schützen soll, nicht wenigstens einen Funken biologischen Sachverstand einholen, bevor sie zum Äußersten greift? Wie kann man sich einbilden, einem wilden Tier in seinem ureigenen Revier mit einer Kugel beizukommen, statt die simpelsten Schutzmaßnahmen zu ergreifen?
Wir reden in diesem Land doch ständig vom Schutz der Natur, von Artenvielfalt, von Respekt für Wildtiere. Selbst wenn mal ein entlaufenes Krokodil durch Hamburg paddelt oder eine Raubkatze in Dortmund gesichtet wird, wird nicht sofort geschossen, sondern ein Team von Fachleuten gerufen, Betäubungsgewehre organisiert, eine Gefahreneinschätzung erstellt. Warum also dieser Kugelhagel gegen einen Fisch, der niemanden getötet hat und dessen stärkste Waffe seine Kieferplatten sind?
Man möchte fast glauben, hier ging es weniger um Gefahr als vielmehr darum, den Held des Tages zu geben — vor den Augen der Presse, die natürlich mitfotografierte, wie das „Monster“ endlich abgeknallt wurde.
Das Versagen beginnt vor dem ersten Schuss
Die eigentliche Verantwortung beginnt aber nicht erst beim Polizisten, der abdrückt. Sie beginnt schon viel früher. Bei einem Festivalveranstalter, der es nicht für nötig hält, sich über die Tierwelt im Badesee zu informieren. Bei Behörden, die Badeplattformen genehmigen, ohne zu prüfen, ob genau dort gerade Jungfische heranwachsen. Bei Ordnungsämtern, die sich in jedem anderen Fall mit akribischen Gutachten und Genehmigungen absichern, aber plötzlich das Naturrecht eines Welses ignorieren.
Wer in der Brutzeit eines Badesees ein Festival erlaubt, der muss wissen, dass auch Tiere dort wohnen. Ein Schild, ein paar Meter Sperrleine, vielleicht sogar ein Hinweis im Bademeisterhäuschen hätten gereicht, um die Menschen fernzuhalten und dem Wels die Chance zu lassen, sein Gelege zu schützen.
Aber in einer Gesellschaft, die jedes Tier zur Bedrohung erklärt, wenn es einmal nicht nach unserem Willen tanzt, scheint gesunder Menschenverstand schnell über Bord zu gehen. Die Reaktion gleicht einem Albtraum aus einer Behörde, die auf alle Fragen dieselbe Antwort hat: Erschießen.
Es ist ein Offenbarungseid für unser Verhältnis zur Natur, wenn wir einen Fisch, der seit Jahrhunderten friedlich in europäischen Gewässern lebt, ohne jede Fachkenntnis zur Bestie machen, um hinterher stolz auf ein paar Pressefotos zu zeigen, wie heldenhaft wir ihn zur Strecke gebracht haben. Am Ende bleibt ein fader Beigeschmack: Hätte man nicht in zwei Stunden mit drei Bojen, einem laminierten Schild und einem Hauch Nachdenken mehr erreicht als mit drei Patronen? Hätte man nicht die Natur, die man so gern sonntags im Wahlkampf verteidigt, auch an einem Badesee respektieren können?
Es ist schon tragisch, dass ein Fisch mehr Verantwortungsgefühl für seine Nachkommen aufbringt als ein hoch bezahlter Beamtenapparat, der sich selbst für den Hüter von Recht und Ordnung hält. Vielleicht sollten wir in Zukunft weniger reden über Natur schützen — und es einfach einmal machen.
ⓘ Der Europäische Wels (Silurus glanis) ist ein heimischer Süßwasserfisch und gehört zu den größten Raubfischen Europas. Er ernährt sich vor allem von Fischen, Fröschen und kleinen Wasservögeln, gilt jedoch nicht als gefährlich für Menschen. Weitere Infos: Wikipedia – Wels (Silurus glanis)
Quellen-Nachweis
Berichte: Süddeutsche Zeitung, BR24, dpa, Video zur Diskussion: YouTube – Robert Marc Lehmann: Mission Erde