Wie ein Kanzler gewählt wurde – und was das über unser Land sagt – Regeln werden angepasst, nicht diskutiert
Es war ein historischer Tag im Bundestag – nicht, weil Friedrich Merz Kanzler wurde, sondern weil das Verfahren, das dorthin führte, ein neues Kapitel parlamentarischer Praxis aufschlägt: schneller, härter, kompromissloser. Die Geschäftsordnung wurde geändert – nicht im Hintergrund, sondern offen, per Antrag und mit Zustimmung von SPD, Grünen, CDU und der Linken. Die Änderung war klar: Ein zweiter Wahlgang am selben Tag, ohne Wartezeit, ohne öffentliche Debatte dazwischen. Demokratie, im Schnellkochtopf serviert.
Es war Dr. Irene Mihalic von den Grünen, die es auf den Punkt brachte: Man habe zugestimmt, weil man Klarheit brauche. Doch sie sprach auch aus, was viele unterschwellig ahnten: Der ausgearbeitete Koalitionsvertrag werde kaum Mehrheiten finden. Eine Regierung, die bei Amtsantritt schon mit dem Rücken zur Wand steht – und sich dennoch durchsetzt. In einem Tempo, das Fragen aufwirft, ohne Zeit für Antworten zu lassen.
Auch die SPD machte Druck. Man wollte den Kanzler heute, nicht morgen. Drei Tage warten? Politisch untragbar, denn in Wahrheit wartete schon der ganze Regierungsapparat auf den Startschuss: Ministerposten, Reisepläne, internationale Auftritte – all das war längst vorbereitet. Die Wahl war der letzte formale Akt, nicht mehr der eigentliche Beginn. Dass es dabei um Inhalte ging, behauptete niemand mehr ernsthaft.
Die Linke, Görke – und die Black-Rote Spitze
Christian Görke, Abgeordneter der Linken, war an diesem Tag eine der klarsten Stimmen im Plenarsaal. Seine Fraktion trug den Antrag zur Abweichung von der Geschäftsordnung mit, nicht weil sie Friedrich Merz wollte – im Gegenteil. Die Linke stellte unmissverständlich klar, dass sie Merz nicht wählen werde. Der Antrag diente allein der Verfahrenssicherung, nicht der politischen Unterstützung. Demokratie funktioniert nur, wenn sie sich selbst ernst nimmt – und das bedeutet eben auch: Entscheidungen müssen irgendwann getroffen werden. Selbst, wenn man mit dem Ergebnis nicht einverstanden ist.
Görke nutzte seine Rede, um sich nicht nur gegen Merz, sondern vor allem gegen die AfD abzugrenzen. Diese Partei, so Görke, „lebt davon, dass es dem Land schlecht geht“. Ein Satz wie ein Schlaglicht: Die AfD als politische Brandstifterin, deren Geschäftsmodell die Krise ist. Wer ihr entgegenkommt, macht sich nicht kompromissbereit, sondern erpressbar.
Und dann ließ Görke die rhetorische Spitze los, die hängen bleibt: Er sprach von der Gefahr einer „Black-Roten Koalition“ – CDU-Schwarz trifft SPD-Rot, mit einem Echo an BlackRock, dem früheren Arbeitgeber von Friedrich Merz. Es war kein Zufall, sondern präzise politische Ironie: Wer den Kapitalmarkt atmet, der wird nicht für soziale Gerechtigkeit stehen – auch dann nicht, wenn rote Farbe über das schwarz-graue Fundament gestrichen wird.
Eine Wahl im Schatten – und eine Mehrheit mit Beigeschmack
Dann kam sie, die geheime Wahl. Keine Kameras mehr, keine Zwischenrufe, nur verdeckte Stimmkarten und das leise Rauschen der Geschichte. 325 Abgeordnete stimmten mit „Ja“. Das reicht – knapp, aber ausreichend. Friedrich Merz ist jetzt Kanzler. Nicht, weil ihn alle wollten, sondern weil sich genug fanden, die ihn nicht verhinderten.
Friedrich Merz wurde mit 325 Stimmen zum Kanzler gewählt. Doch diese Zahl erzählt nur einen Teil der Wahrheit – denn die Wahl war geheim, die Motive hinter den Stimmen bleiben im Dunkeln. Klar ist: Nicht alle, die dem Antrag zur Geschäftsordnungsänderung zugestimmt hatten, haben auch Friedrich Merz gewählt.
Die Zustimmung zum Verfahren bedeutete nicht Zustimmung zur Person. Parteien wie die Linke und die Grünen hatten im Vorfeld deutlich gemacht, dass sie zwar den Weg freimachen, um Klarheit im Parlament zu schaffen – den Kandidaten selbst aber nicht unterstützen. Die Differenz zwischen der rechnerischen Koalitionsmehrheit und dem tatsächlichen Ergebnis zeigt: Es gab Abweichungen – vermutlich in beide Richtungen.
Ob Stimmen aus der AfD zur Kanzlermehrheit beigetragen haben, bleibt Spekulation – die Möglichkeit ist da, doch der Beweis fehlt. Umgekehrt ist sicher: Die Wahl von Friedrich Merz war ein Erfolg auf Messers Schneide, kein breiter Rückhalt – und genau das prägt die Unsicherheit, die diesem Regierungsbeginn innewohnt.
Görke und andere warnen zu Recht: Wer sich auf solche Mehrheiten einlässt – ob bewusst oder durch Untätigkeit –, der öffnet Tür und Tor für Inhalte, die lange jenseits des Sagbaren lagen. Der Weg zu sozialem Abbau, autoritärer Innenpolitik und dem Rückbau demokratischer Freiheiten ist kurz, wenn die Rechten das Zünglein an der Waage spielen.
Und so steht am Ende dieses Tages kein großer Aufbruch, kein Versprechen, sondern ein politischer Deal unter Hochspannung. Man hat das Land in Bewegung gesetzt – doch wohin es rollt, bleibt ungewiss. Die einen nennen es Führung, die anderen Flucht nach vorn.
Mehrheitsfähig heißt nicht mehrheitswürdig
Der heutige Tag zeigt: Demokratie funktioniert – aber sie atmet schwer. Sie ist auf dem Papier klar geregelt, aber in der Praxis zunehmend ein Spiel mit Symbolen, Verfahren und Mehrheitsmathematik. Friedrich Merz ist Kanzler – mit 325 Stimmen, mit Hilfe der AfD, mit einem Koalitionsvertrag, der kaum trägt. Es ist ein Regierungsbeginn, der wie ein Spurt aussieht, aber sich anfühlt wie ein Stolperstart.
Und während auf den Ministeretagen jetzt die Koffer ausgepackt werden, steht draußen die Gesellschaft – verwundert, ratlos, irritiert. Vielleicht ist das der größte Unterschied zu früher: Früher wurde um das Amt gekämpft. Heute wird es durchgerechnet.