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Der Baum im Stress – eine Bestandsaufnahme

von Thomas Wendtland
Tote, silbrig ausgebleichte Baumstämme ragen wie Skelette aus einer vertrockneten Heidefläche unter einem leicht bewölkten Himmel.

Ein Wald schweigt nicht. Er stöhnt, ächzt, flüstert. In Zeiten der Erderhitzung tut er das lauter als je zuvor. Was einst als Selbstverständlichkeit galt – ein dichter, gesunder Wald mit grünen Kronen – ist heute zu einer Ausnahme geworden.

Die Waldzustandserhebung von 2024 liefert ein erschütterndes Bild: Nur 21 Prozent der untersuchten Bäume zeigen noch eine vollintakte Krone. 43 Prozent sind im Warnbereich, 36 Prozent krank, sehr krank oder bereits tot. Die Kronen – sie sind das Antlitz des Waldes, ein Seismograph für sein innerstes Gleichgewicht. Und dieses Gleichgewicht ist längst aus der Balance geraten.

Grüne Kronen, gelbe Kronen, rote Kronen

Es ist ein trauriger Farbcode, der unsere Wälder beschreibt. Wo früher grüne Kronen das Sonnenlicht abwehrten, sich rauschend im Wind wiegten und das Himmelsblau verbargen, sind heute oft Lücken. Ein gelber Schimmer bedeutet: Die Krone lichtet sich. Licht fällt durch das einst dichte Blätterdach. Noch lebt der Baum, aber er ist angeschlagen. Und dann ist da Rot: Kronen zerfasert, zerfleddert, durchscheinend. Ein Baum mit 100 Prozent Kronenverlichtung ist nicht mehr – er steht noch, aber nur als Phantom seiner selbst.

Die Ursachen sind bekannt, aber nicht gebannt. Trockenstress, Hitzeperioden, verdichtete Böden, der zunehmende Schädlingsdruck durch Borkenkäfer oder die Eichenprachtkäfer – all das schlägt zu. Und es schlägt nicht gleichmäßig zu, sondern mit erbarmungsloser Willkür: Eichen, Buchen, selbst einst robuste Arten wie Kiefern – sie alle kapitulieren langsam.

Politik im Streichelmodus

Als Landwirtschaftsminister Alois Reiner (CSU) im Tegeler Forst den aktuellen Bericht präsentierte, kletterte er auf Baumstümpfe, streichelte den Hund eines Reviermitarbeiters und lobte das Vogelgezwitscher. Es war der medientaugliche Moment, das PR-taugliche Lächeln – und es war das Gegenteil dessen, was die Wälder brauchen. Worte ersetzen keine Bäume. Und gestreichelte Beagles ersetzen keine Konzepte.

Henrik Hartmann vom Julius-Kühn-Institut formuliert es nüchtern, aber eindringlich: „Es braucht eine große Aufforstung.“ Doch womit? Und wohin? Welche Baumarten vertragen die Hitze der Zukunft, die wechselhaften Niederschläge, den Starkregen? Prognosemodelle helfen wenig, wenn jeder Standort anders tickt. Der Straßenbaum leidet anders als der Waldrandbaum, der Einzelbaum auf dem Feld ist verletzlicher als der in Gesellschaft.

Widerstandskraft ist keine Meinung

Es geht nicht um Meinungen, es geht um Lebensbedingungen. Um Photosyntheseleistung, um Verwurzelungstiefe, um Resilienz. Ein gesunder Baum ist nicht nur grün, er ist vorbereitet: auf Trockenzeiten, auf Temperatursprünge, auf Sturm, auf Blitzschlag. Die Frage ist nicht, wie schön ein Baum aussieht, sondern wie lange er durchhält. Ein Baum, der heute noch kräftig steht, aber morgen keinen Zugriff mehr auf Wasser hat, wird in drei Jahren als kranker Roter geführt.

Und doch reden wir an der Sache vorbei. Die klimatische Zukunft ist ungewiss – ob zwei, drei oder gar vier Grad Erwärmung auf uns zukommen, lässt sich nicht sicher vorhersagen. Sicher ist nur: Der Umbau muss jetzt beginnen. Aber das Wort „Umbau“ suggeriert Planbarkeit. Und es verschleiert das eigentliche Dilemma: Wir pflanzen nicht einfach neue Bäume. Wir müssen ganze Lebensräume neu denken.

Selbst die 900 Millionen Euro aus den Fördertöpfen für Agrar- und Küstenschutz – samt 135 Millionen aus dem Etat des Ministeriums – helfen nur bedingt. Denn sie erreichen oft nicht den Baum selbst, sondern versickern in Verwaltungsfluren oder technischen Maßnahmen, die das Umfeld betreffen. Der Baum auf dem Deich, am Straßenrand, im Hitzekessel der Stadt – er sieht von dem Geld wenig.

Der Baum der Zukunft muss mehr können als nur wachsen. Er muss standhalten. Und wir müssen endlich aufhören, ihn zu behandeln wie ein Dekorstück in der Landschaft. Er ist kein Symbol. Er ist ein lebendiges System. Eines, das unter Druck steht.

Ein Blick nach vorn

Der Baum muss in Zeiträumen gedacht werden, die wir verlernt haben: 10 Jahre, 20, 50. Die Entscheidung, heute zu pflanzen, entscheidet über den Wald, den unsere Enkel begehen – oder eben nicht mehr begehen können. Gießen reicht nicht. Mulchen reicht nicht. Es braucht eine neue, ernste, langfristige Vorstellung davon, was ein widerstandsfähiger Wald überhaupt ist.

Wir stehen nicht am Anfang des Problems. Wir stehen mittendrin. Aber wir können beginnen, es ernst zu nehmen. Ohne PR-Schnörkel, ohne Pressefotos mit Hunden und Harke. Sondern mit einem Verständnis für das, was auf dem Spiel steht: das Rückgrat unserer Landschaft. Und vielleicht auch unser eigenes.

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