Dieser Artikel soll keine Meinungsmache sein
Und auch der Journalismus – das betonen wir an dieser Stelle ausdrücklich – muss neutral bleiben. Doch Neutralität bedeutet nicht Blindheit. Es bedeutet, wach zu bleiben für Entwicklungen, die irritieren, stören, Fragen aufwerfen. Aufzuklären über das, was sichtbar ist, gehört zu den Grundpfeilern einer demokratischen Öffentlichkeit. Und manchmal sind es gerade die kleinen Beobachtungen, die uns zu größeren Überlegungen führen.
So auch in diesem Fall: Bei der Neuerstellung mehrerer Accounts auf der Plattform Twitter – inzwischen unter dem Namen X firmierend – fiel unserer Redaktion ein wiederkehrendes Muster auf. Ein Muster, das nicht zufällig wirkte, sondern gesteuert. Und das so auffällig war, dass es diesen Artikel notwendig machte.
Die Redaktion hat zu Testzwecken mehrere neue Twitter-Accounts angelegt – auf unterschiedlichen Geräten, mit verschiedenen Browsern, darunter auch Tor. Es handelte sich um saubere Setups ohne persönliche Voreinstellungen, ohne Historie, ohne gespeicherte Interessen. Das Ziel war es, herauszufinden, ob die Plattform unabhängig vom Nutzerprofil ähnliche Inhalte vorschlägt. Die Antwort: Ja – und zwar mit erschreckender Konstanz.
Kaum ist ein neuer Account aktiviert, erscheinen auffällig häufig Profile aus dem rechten bis rechtskonservativen Spektrum. Namen wie „Neverforgetniki“, Politiker der AfD, Influencer mit einer klaren Ausrichtung gegen den demokratischen Mainstream. Inhalte, die nicht zum kritischen Diskurs einladen, sondern in eine Richtung lenken – in eine, die Zuspitzung statt Differenzierung bevorzugt.
Insbesondere der Account „Neverforgetniki“ fällt dabei auf. Er taucht regelmäßig unter den ersten Vorschlägen auf – unabhängig vom Gerät oder der Browserumgebung. Was ihn besonders macht, ist nicht nur die Reichweite, sondern die Reaktion, die er hervorruft. Zahlreiche Nutzerinnen und Nutzer, die seiner Ideologie kritisch gegenüberstehen, haben längst eine eigene ironische Gegenkampagne ins Leben gerufen. Unter dem Hashtag #NikiSchreibtKacki wird kommentiert, gekontert und gespottet – manchmal derb, oft kreativ, aber stets mit dem Impuls, etwas entgegenzusetzen. Es ist eine digitale Form des Widerstands gegen ein Meinungsbild, das sich über Algorithmen hinweg in den Vordergrund drängt.
Doch es bleibt der bittere Nachgeschmack: Die Plattform selbst scheint diesen Widerspruch nicht zu registrieren. Der Algorithmus funktioniert ungerührt weiter, präsentiert den Account prominent, tut so, als sei er neutral – während die Wirkung alles andere als das ist.
Es entsteht der Eindruck, als sei diese Auswahl keine zufällige, sondern eine strukturell gewollte. Eine Art redaktionelle Vorentscheidung durch den Algorithmus – mit dem Unterschied, dass hier nicht Faktenlage und Ausgewogenheit zählen, sondern Interaktionsraten und Reichweite.
Das ist besonders brisant in einer Zeit, in der öffentliche Debatten ohnehin zunehmend durch Empörung und Fragmentierung geprägt sind. Die Plattform, die sich einst als Ort des freien Austauschs verstand, scheint sich selbst in eine Richtung verschoben zu haben, in der nicht mehr Vielfalt, sondern Verstärkung dominiert. Verstärkt wird, was laut ist. Was polarisiert. Was klickt. Wer differenziert, bleibt unsichtbar. Wer zweifelt, verliert gegen den, der behauptet.
Dass diese Dynamik nicht zufällig entsteht, sondern systemimmanent ist, zeigt sich an der Wiederholung. Es reicht, einen Blick auf die Vorschläge bei frischen Accounts zu werfen, um zu erkennen: Die Eingangsportale sind voreingestellt. Der Nutzer soll nicht entdecken – er soll folgen.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass die Firma Twitter – oder X – über eine offizielle Adresse in Deutschland verfügt. Sie ist also nicht nur international agierend, sondern auch national greifbar. Und hier stellt sich eine weitere Frage, die bislang kaum öffentlich diskutiert wird: Wer trifft eigentlich auf deutscher Ebene Entscheidungen, wenn es um Inhalte, Strukturen und Empfehlungen geht?
Es bleibt festzuhalten, dass bislang keine Transparenz darüber besteht, ob innerhalb der deutschen Niederlassung Personen mitwirken, die dem rechten Spektrum nahestehen – oder zumindest offen sind für jene Tonlage, die bestimmte Inhalte systematisch bevorzugt. Sollte dies der Fall sein, wäre das mehr als nur eine algorithmische Unschärfe. Es wäre ein Hinweis darauf, dass sich politische Strömungen nicht nur in Tweets, sondern möglicherweise auch in unternehmerischen Entscheidungen abbilden. Eine Klärung dieser Frage liegt nicht nur im Interesse der Öffentlichkeit – sie ist Teil eines notwendigen demokratischen Selbstschutzes.
Dabei ist zu betonen: Die Politik hat in dieser Frage kaum direkten Einfluss. Und das ist auch richtig so. Denn ein freies Presserecht – ein Grundpfeiler unserer Verfassung – schützt nicht nur klassische Medien, sondern auch Plattformen wie Twitter bzw. X. Es erlaubt ihnen, Inhalte zu kuratieren, Vorschläge zu machen, ihre Systeme nach eigenem Ermessen zu gestalten. Doch gerade weil der Staat nicht eingreifen darf, ist es umso wichtiger, dass er aufklärt.
Die Politik – deren Aufgabe es ist, die Demokratie zu schützen – muss endlich eine Sprache finden, die nicht nur auf Gremienebene funktioniert, sondern auch bei den Nutzern ankommt. Es reicht nicht, mit Begriffen wie „Desinformation“ und „digitale Souveränität“ zu jonglieren, während ganze Bevölkerungsgruppen im Meinungssog eines Netzwerks verschwinden, das täglich Fakten durch Lautstärke ersetzt.
Wer sich ernsthaft im Kosmos von Twitter bzw. X aufhält, wird mit einer Flut an Meinungen konfrontiert, die mit überprüfbarer Wirklichkeit oft nur noch am Rande zu tun haben. Wer diese Meinungen täglich sieht, klickt, liest, weiterschickt – kann sich irgendwann aus dieser Filterblase kaum mehr selbst befreien. Es ist keine Frage der Intelligenz, sondern der Gewöhnung. Und es ist eine politische Aufgabe, dem etwas entgegenzusetzen – nicht durch Kontrolle, sondern durch verständliche, greifbare, kluge Kommunikation.
Vielleicht ist es an der Zeit, diesen Netzwerken ihre – Unschuld – abzusprechen. Vielleicht sollten wir aufhören, sie als bloße Werkzeuge zu betrachten – und beginnen, sie als Räume zu begreifen, in denen sich Macht neu organisiert. Und vielleicht, nur vielleicht, wäre es heilsam, die Willkommensseiten neuer Accounts als das zu betrachten, was sie sind: Vorschläge. Keine Einladungen. Keine Empfehlungen. Sondern der erste Schritt einer Erzählung, die nicht mit „es war einmal“ beginnt – sondern mit „folge mir“.