Die vorgezogene Bundestagswahl im Februar hat ein farbliches Signal hinterlassen, das schwer übersehbar ist: Der Osten ist blau. Mit wenigen Ausnahmen hat die AfD nahezu alle Direktmandate in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen geholt. Diese optische Dominanz auf der Wahlkarte ist mehr als nur ein statistisches Ergebnis – sie wirkt wie ein Stempel auf die öffentliche Wahrnehmung einer ganzen Region.
Und diese Wahrnehmung bleibt nicht ohne Folgen. Es ist auffällig: Die Tourismuszahlen in Ostdeutschland gehen zurück. Was zunächst wie ein Nebeneffekt politischer Entscheidungen wirkt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Ausdruck einer tiefer liegenden Unsicherheit.
Zwischen Stimmungsbild und Wanderlust
Wer seinen Urlaub plant, tut das nicht im luftleeren Raum. Der Wunsch nach Erholung geht einher mit dem Bedürfnis nach Sicherheit, Offenheit, Willkommenskultur. Tourismus ist nie unpolitisch, auch wenn er sich gerne so gibt. Eine Gegend, die in der medialen Erzählung zunehmend mit rechtspopulistischen Tendenzen verknüpft wird, verliert an Strahlkraft. Das ist mehr als eine Empfindung. Es ist ein wirtschaftlicher Faktor.
Dabei liegt die Krux in der Gleichzeitigkeit: Während einige Regionen sich verbal abschotten, sind sie ökonomisch auf offene Türen angewiesen. Denn in vielen Teilen Ostdeutschlands bildet der Tourismus ein zentrales wirtschaftliches Standbein. Ferienwohnungen, Gaststätten, kleine Pensionen, Wanderführer, Bootsverleiher – sie alle leben vom Sommergast, vom Wochenendbesuch, vom Familienausflug. Wenn aber genau jene Gäste ausbleiben, weil das Image der Region bröckelt, dann gerät ein fein austariertes System ins Wanken. Das mag den Parteien am äußersten Rand gleichgültig sein. Den Menschen vor Ort ist es das nicht.
Immer öfter wenden sich daher Gastwirte, Hoteliers und Tourismusbetriebe mit eindringlichen Appellen an die Öffentlichkeit. Sie bitten um eine Chance – an die Besucher, die sich einen offenen Blick bewahren, und an die Politik, die jetzt gefordert ist, klare Impulse zu setzen. Es geht nicht um parteipolitische Parteinahme, sondern um Lebensgrundlagen. Der Tourismus trägt maßgeblich dazu bei, dass Menschen in der Region Arbeit finden, dass Strukturen erhalten bleiben, dass Perspektiven entstehen. Wer hier bucht, zahlt nicht nur für ein Zimmer – er zahlt ein Stück Vertrauen.
Zugleich äußern sich immer mehr potenzielle Gäste in Kommentaren, die zwischen Vorsicht und Resignation schwanken. So schreibt ein schwules Ehepaar: „Nein danke – es ist mir klar, dass dort auch viele stabile, freundliche Menschen leben, vielleicht sogar in der Mehrheit. Aber entspannen könnten wir dort nicht.“ Andere Stimmen lehnen eine pauschale Verurteilung ab und sehen in der Kritik an hohen AfD-Werten eine mediale Verzerrung. Ein User verweist auf einen früheren Spiegel-Artikel, dem er „Lügen“ unterstellt und der von rechten Gruppen vehement kommentiert wurde. Wieder ein anderer Gast schreibt: „Seitdem meine Heimatstadt Erfurt zur Hauptstraße der Hauptstadt der Nazis wurde, bin ich auch nicht mehr dort – muss ich mir nicht anhören.“
Was Kommentare über das Klima verraten
In diesen Kommentaren liegt eine Wahrheit, die unbequem ist, aber ausgesprochen werden muss: Politische Stimmung und persönliches Sicherheitsgefühl greifen ineinander. Es geht nicht nur um Prozentzahlen oder Schlagzeilen, sondern um das stille Bauchgefühl, das über Wohlwollen oder Rückzug entscheidet. Wer sich nicht willkommen fühlt, kommt nicht – und das ist keine Frage des Vorurteils, sondern der Erfahrung. Immer wieder ist in Zuschriften die Rede davon, dass das Wohlfühlen nicht allein durch mediale Bilder, sondern durch reale Eindrücke vor Ort getrübt werde: etwa durch aggressive politische Aussagen im Straßenbild, an Stammtischen, an Tankstellen oder in der Metzgerei. Nicht die Gastwirte selbst, so betonen viele, sondern einzelne lautstarke Gruppen sorgen für ein Klima, das einschüchtert – bis hin zu der drastischen Einschätzung, in manchen Regionen Ostdeutschlands etabliere sich erneut eine Herrenmenschen-Ideologie. Das ist nicht der Alltag aller – aber es reicht, um das Sicherheitsgefühl zu stören. Die Wirkung ist spürbar – im Buchungsverhalten, im Schweigen vieler, im Rückzug aus einer Region, die mehr verdient hätte als das.
Blühende Landschaften – und doch viel Leere
Es lohnt ein Blick zurück. Als Helmut Kohl 1990 die „blühenden Landschaften“ versprach, klang das für viele nach Pathos. Heute, über dreißig Jahre später, darf man sagen: Sie sind da. Die Natur ist unberührt, die Seen glasklar, die Wälder tief und reich an Wegen. Wanderer, Radfahrer, Naturfotografen – sie finden hier Bedingungen, von denen andere Länder nur träumen können. Doch wer kommt noch? Die Statistik zeigt eine sinkende Buchungsquote in weiten Teilen der neuen Bundesländer. Es ist nicht nur die politische Großwetterlage, die hier wirkt. Auch die allgemeine wirtschaftliche Lage trägt ihren Teil bei: Die Deutschen sparen. Die Reiselust ist geblieben, doch der Radius wird kleiner. Wo früher eine Woche im Hotel an der Müritz gebucht wurde, steht heute der eigene Balkon oder der Harz zur Debatte. Das hat nicht nur mit dem Geldbeutel zu tun, sondern mit der öffentlichen Stimmung.
Die Folge ist eine paradoxe: Die Regionen werden ruhiger. Das ist schön für die, die kommen – und fatal für die, die auf sie warten. In dieser Gleichzeitigkeit von landschaftlicher Schönheit und politischer Verstörung liegt die Herausforderung. Man kann das als Chance sehen: Eine Möglichkeit, genau jene Gegenden wiederzuentdecken, die zu Unrecht stigmatisiert wurden. Man kann es aber auch als Auftrag begreifen: Sich nicht abschrecken zu lassen, wo die Realität komplexer ist als ein Wahlergebnis.
ⓘ Die AfD erzielte bei der vorgezogenen Bundestagswahl im Februar 2025 in über 80 Prozent der ostdeutschen Wahlkreise das Direktmandat. Gleichzeitig sank laut Statistischem Bundesamt die Auslastung von Beherbergungsbetrieben in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im Vergleich zum Vorjahr um durchschnittlich 12 Prozent. Als Gründe werden nicht nur politische Befürchtungen genannt, sondern auch wirtschaftliche Zwänge, gestiegene Preise und ein allgemeiner Rückgang der Reiselust in Folge der Inflation. Hinzu kommen subjektive Unsicherheiten – von der Angst vor Diskriminierung bis hin zur politischen Ablehnung der regionalen Mehrheitsverhältnisse.
🔍 Quellen-Nachweis
Statistisches Bundesamt (Destatis), Monatsbericht Tourismus Ost, April 2025
Wahlstatistik Bundestagswahl 2025, Bundeswahlleiter
DW-Bericht „AfD-Hochburgen und ihr Imageproblem“, März 2025
Spiegel-Analyse „Wo der Osten kippt“, Februar 2025
Öffentliche Online-Kommentare auf Zeit.de, Tagesspiegel, Twitter (Auswahl), Juni 2025