Er sitzt leise mit am Tisch. Inmitten von Freunden, inmitten des Alltags, neben der Pasta, dem Lachen, den Gesprächen. Alkohol ist da, ohne dass wir ihn rufen müssen.
Er braucht keine Einladung. Er gehört dazu. So sehr, dass sein Fehlen auffallen würde, lächerlich fast, als wäre ein Glas Wasser zur Vorspeise ein Zeichen von Schwäche. Doch die Stärke, die wir im Trinken vermuten, ist trügerisch. Sie ist gesellschaftlich bemalt, marketingtechnisch lackiert und physiologisch gesehen eine zähflüssige Last. Was folgt, ist keine Anklage. Es ist ein Versuch, dem Mythos ein wenig die Glasur zu nehmen.
Die Normalität des Unnormalen
Man trinkt nicht, weil man muss. Man trinkt, weil es dazugehört. Zum Abendbrot ein Bier. Zum Grillen zwei. Zum Einschlafen vielleicht noch eines. Drei Bier am Tag, verteilt wie ein leiser Taktgeber durch den Alltag, erzeugen keinen Rausch, keine Ausfallerscheinung, keine Schlagzeile. Aber sie erzeugen etwas anderes: einen Dauerzustand. Einen Spiegel, den die Leber Tag für Tag mit sich herumschleppt. Eine Anforderung, die nie endet. Der Körper ist permanent damit beschäftigt, das Zellgift Ethanol zu verstoffwechseln, wobei das Enzym ADH Ethanol in Acetaldehyd überführt – ein Stoff, der sogar noch giftiger ist. Erst danach folgt der Abbau zu essigsauren Substanzen. Eine Kettenreaktion, die jedes Glas auslöst.
Doch was von außen so harmlos aussieht, wirkt im Inneren wie eine stille Zerreißprobe. Der Darm verliert durch regelmäßigen Alkoholkonsum seine Integrität. Die schützenden Schleimhäute werden dünn, die Bakterienbalance verschiebt sich. Die guten Mikroben sterben schneller als die schlechten wachsen. Entzündungsprozesse beginnen, das Immunsystem gerät in Daueralarm. Man spricht vom „leaky gut“, einem Zustand, in dem der Darm durchlässig wird, Fremdstoffe ins Blut gelangen und der Körper chronisch entzündet ist. Man wundert sich über Hautprobleme, Allergien, Aphthen, Herpes. Doch was man nicht sieht: Die Ursache liegt oft im Glas.
Die Illusion vom guten Schlaf und der heiteren Geselligkeit
Alkohol hilft beim Einschlafen, heißt es. Und ja, er sediert. Er betäubt. Doch er raubt dem Gehirn, was es zur Regeneration braucht: den REM-Schlaf, den Tiefschlaf, die Träume, in denen wir verarbeiten, was war. Es ist ein Trugschluss: Der Trinker schläft, aber er erholt sich nicht. Junk Sleep nennt man das. Wie Fast Food fürs Nervensystem. Am nächsten Morgen wacht man auf, nicht verkatert vielleicht, aber vernebelt. Der Dopaminspiegel ist im Keller, das Serotonin verbraucht. Man beginnt den Tag mit einer chemischen Traurigkeit, deren Ursprung man nicht mehr kennt.
Die Geselligkeit, die durch Alkohol entsteht, ist oft nicht echt. Sie ist induziert, enthemmt, einseitig. Gespräche werden lauter, aber nicht tiefgründiger. Das Lachen ist lauter, aber nicht ehrlicher. Die Werbung suggeriert uns Bier im Sonnenlicht, im Garten, im weichgezeichneten Gefühl von Weltfrieden. Doch der Preis für dieses Bild ist ein innerer Krieg, der längst begonnen hat. Alkohol durchdringt die Blut-Hirn-Schranke, lagert sich an, stört Zellkommunikation, verändert Strukturen. Neue Studien belegen: Selbst zwei Gläser Wein pro Woche können das Gehirn messbar verändern, die graue Substanz schrumpfen lassen. Altern im Zeitraffer.
Die Freiheit, nicht mitzumachen
Alkohol ist legal, moralisch akzeptiert, wirtschaftlich erwünscht. Und genau das macht ihn so schwer zu kritisieren. Wer nicht trinkt, muss sich erklären. Wer fragt, ob es auch etwas Alkoholfreies gibt, wird belächelt. Doch genau darin liegt das Problem. Die Norm ist entgleist. Die Selbstverständlichkeit, mit der man „nur ein Bier“ trinkt, ist das Fundament einer Industrie, die davon lebt, dass wir unsere Leber auf Standgas fahren.
Und doch: Jeder Mensch hat die Freiheit, zu sagen: Ich mach da nicht mehr mit. Es braucht keine Entziehungskur, keinen Stempel, keine Bücher. Es braucht nur diesen einen Satz. Denn der Weg raus beginnt nicht mit Verzicht, sondern mit einer Erkenntnis: Ich will meinem Körper nicht länger wehtun für ein Gefühl, das ich auch ohne Alkohol haben kann – denn Glück, Wohlbefinden und innere Ruhe entstehen ebenso bei einem Spaziergang im Wald oder beim Seeluftschnuppern am Strand. Und so manche gute Idee ist entstanden durch Gespräche, die ohne Alkohol geführt wurden – denn es war die Vorstellungskraft, die diesen Menschen die Euphorie gab, nicht der Rausch.
Es sind die stillen Momente, in denen diese Entscheidung reift. Wenn man nachts wach liegt und der Schlaf flach bleibt. Wenn der Bauch sich spannt, die Verdauung rebelliert. Wenn die Lust versiegt und der Spiegel nicht lügt. Alkohol ist kein Teufel. Aber er trägt dessen Handschrift. Und wer sie einmal erkannt hat, wird nie wieder trinken, ohne es zu wissen.
Denn das eigentliche Fest beginnt, wenn man klar ist. Wenn das Leben wieder schmeckt, ohne zu brennen. Und wenn die Leber nicht mehr flüstern muss, weil sie gehört wird.
Aufhören zu trinken – das kann jeder Mensch für sich entdecken. Es muss kein vollständiger Verzicht auf ewig sein. Doch wer erkennt, dass er zu viel getrunken hat, sollte seinem Körper eine wirkliche Pause gönnen: mindestens ein halbes Jahr, in dem kein Alkohol fließt. Kein Krampf, kein Zwang – sondern eine klare Entscheidung. Denn wer eine Woche lang durchhält, sich vielleicht geplagt hat, sich vorstellt, dass nun alles besser wird – und dann am Wochenende doch wieder trinkt, der macht vieles zunichte. Der Körper braucht Zeit zur Regeneration. Und die beginnt erst dann, wenn man ihm nicht mehr ständig neue Gifte zumutet. Alkohol-Stopp – ja, aber nicht nur symbolisch. Sondern wirklich. Für eine längere Zeit. Für sich selbst.
ⓘ Infokasten: Alkohol und Gesundheit Alkohol ist ein Zellgift. Er wird im Körper zu Acetaldehyd verstoffwechselt – einer Substanz, die nachweislich krebserregend ist. Bereits ein tägliches Bier oder zwei Gläser Wein pro Woche können die Leber belasten, den REM-Schlaf stören und die Hirnstruktur verändern. Alkohol schädigt die Darmschleimhaut, fördert Entzündungen, unterdrückt das Immunsystem und erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz und Depressionen.
Quellen-Nachweis – UK Biobank Studie: „Association between alcohol consumption and brain structure“ (2022), University of Pennsylvania
– Video: Chris Surel – „Die erstaunliche Wirkung von Alkohol auf Gehirn und Körper“ (YouTube)
– Video: Chris Surel – „Warum fühlt sich Alkohol im Gehirn so gut an?“ (YouTube)
– WHO Leitlinien zur Alkoholprävention (aktuelle Empfehlungen, 2023)