Ein Armband, ein Abo, ein Lehrstück in moderner Geldvermehrung. Mit dem Charge 6 hat Fitbit – inzwischen ein Tochterunternehmen von Google – ein Gerät auf den Markt gebracht, das in Tests und großen Medien begeistert gefeiert wird. Auch die Bild-Zeitung spricht von einem „Über-Tracker“. Und tatsächlich: Der Charge 6 liefert beeindruckende Funktionen. EKG, SpO₂-Messung, Hauttemperatur, Stresslevel – was sonst nur in höherpreisigen Smartwatches zu finden ist, steckt hier in einem schmalen Band.
Die großen Medien überschlagen sich geradezu in Lobeshymnen: von „bahnbrechender Gesundheitskontrolle“ ist die Rede, von einem „medizinischen Wunder am Handgelenk“. Unterstützt werden diese Euphorie-Artikel durch Aussagen von Ärzten, die dem Gerät eine „niedrigschwellige Vorsorgefunktion“ zuschreiben – und es beinahe zum diagnostischen Instrument adeln.
Doch was dabei oft verschwiegen wird: All diese Funktionen – so verlockend sie klingen – sind nicht automatisch freigeschaltet. Wer seine Stresswerte detailliert sehen will, wer die EKG-Funktion regelmäßig nutzen oder seinen Schlaf wirklich auswerten möchte, landet zwangsläufig im kostenpflichtigen Fitbit Premium-Abo. Das Gerät selbst kann viel – aber es darf es erst, wenn man regelmäßig zahlt.
Noch perfider: Die Musiksteuerung, eines der beworbenen Features, funktioniert ausschließlich in Verbindung mit einem YouTube-Premium-Abo. Kein Spotify, kein MP3, keine offene Schnittstelle. Wer also glaubt, das Band einmal zu kaufen und dann frei zu nutzen, erlebt eine bittere Überraschung: Das Charge 6 ist nicht dein Produkt – es ist dein Eintritt in Googles Abo-Ökosystem.
Unterstützt wird der Hype durch Aussagen wissenschaftlicher Institute, die eine präzisere Schlafüberwachung belegen, und durch Expertenstimmen, die von einem neuen Level der Herzfrequenzanalyse sprechen – „so nah am Herzen wie nie zuvor“. Die Sensoren des Charge 6 erfassen kleinste Veränderungen, die App deutet sie mit psychologischer Akribie. Es entsteht der Eindruck: Dieses Armband ist nicht einfach Technik – es ist ein Wegbegleiter zur Selbstverbesserung. Die Werbewelt hat das längst erkannt und schaltet in den Trigger-Modus: Wer nicht misst, bleibt zurück. Wer nicht optimiert, bleibt Durchschnitt. Und wer Durchschnitt ist, ist bald krank.
So wird aus einem Tracker ein psychologisches Produkt: Die Selbstoptimierer greifen zuerst zu, dann die Fitnessjunkies, schließlich der gesunde Durchschnittsbürger mit dem Wunsch, eben noch ein bisschen gesünder zu sein. Die emotionale Mechanik dahinter ist einfach – aber wirksam: Der Kaufwunsch wird nicht einfach geweckt. Er wird ausgelöst.
Was viele dabei nicht bemerken: Dieses Produkt ist kein einmaliges Investment. Es ist ein teures Abo-Erlebnis, verpackt als einmalige Anschaffung. Wer es wirklich in vollem Umfang nutzen will, muss sich auf monatliche Zahlungen, Datenabgaben und Systembindungen einlassen. Der Preis ist längst nicht mehr nur das, was auf dem Etikett steht.
Massenware aus Fernost, Premiumpreis im Westen
Die Fitbit Charge 6 wird – wie fast alle Geräte dieser Kategorie – in Fernost produziert, vermutlich in einer der großen OEM-Fabriken, wo Wearables in Serie entstehen. Die realen Herstellungskosten dürften unter 10 Euro liegen. Ein paar Cent für das Armband, ein paar Dollar für Sensoren und Display, dazu geringe Lizenzgebühren für den verbauten Qualcomm-Chip – mehr ist es wahrscheinlich nicht. Doch während die Produktionskosten auf ein Minimum gedrückt werden, erlebt der Verkaufspreis im Westen eine völlig andere Dynamik.
Was im Einkauf ein Massenprodukt ist, wird im Verkauf zur exklusiven Dauerquelle: Für ein Gerät mit mutmaßlich einstelligen Herstellungskosten zahlt der Endkunde nicht nur 140 Euro – er wird zusätzlich in ein System aus Abonnements und Accountbindungen eingespannt, das jährlich weitere 150 bis 300 Euro kosten kann. Und das in einer Region, in der die Kaufkraft hoch ist und das Markenvertrauen noch höher.
Was hier geschieht, ist mehr als cleveres Marketing. Es ist ein System aus Wucher, Verknappung durch Software und der geschickten Emotionalisierung eines banalen Plastikgehäuses. Google monetarisiert die Massenproduktion aus China mit chirurgischer Präzision – und erhebt sich damit über das, was man früher als ehrliches Wirtschaften bezeichnete.
Medienhype statt Aufklärung: Wer schweigt, kassiert mit
Auch die großen Medienhäuser – Bild, Welt, Focus und ihre digitalen Ableger – spielen in dieser Inszenierung mit. Sie berichten begeistert über das „Wunderarmband“, loben dessen „medizinische Relevanz“, zitieren willfährig Studien und ärztliche Stimmen, ohne deren Unabhängigkeit zu hinterfragen. Was fehlt, ist jede Form kritischer Distanz. Kein Wort über die Abofallen. Kein Wort über die erzwungene Google-Integration. Kein Wort über die realen Produktionskosten oder die fragwürdige Notwendigkeit solcher Dauerüberwachung.
Aber warum auch? Diese Medien wollen mitverdienen. An der Selbstoptimierung des modernen Menschen. Am unterschwelligen Krankheitsbewusstsein, das sich jederzeit aktivieren lässt. Am neu geschaffenen Bedürfnis, jede Körperregung in einer App zu spiegeln – als wäre Gesundheit ein Highscore.
Statt Aufklärung gibt es Produktverlängerung im redaktionellen Gewand. Technikjournalismus wird zum Beipackzettel für Konzerninteressen. Der Leser? Soll bitte kaufen. Und abonnieren. Und glauben.
Am Ende steht der Kunde mit einem Hochleistungs-Tracker am Handgelenk da – und tanzt digital ums goldene Kalb. Nicht, weil er muss. Sondern weil man ihn dazu gebracht hat, es zu wollen.
🖋 Anmerkung des Autors
Ja, auch ich sehe Fitness-Tracker grundsätzlich als sinnvolle Instrumente, um die eigene Gesundheit besser im Blick zu behalten. Ich selbst nutze ein Band 7, verbunden mit Google Fit und der YAZIO-App. Und ja, ich schaue ab und zu mal drauf – wenn ich beim 100-Meter-Lauf außer Atem komme, beim Windsurfen über meine Grenzen gehe oder beim Golfen merke, dass der Puls klopft wie ein Presslufthammer. Dann werfe ich einen Blick auf den Tracker. Aber wenn ich ehrlich bin: Es sind Alibi-Funktionen. Ich schaue nicht täglich drauf, ich optimiere nicht, ich lebe einfach – und genau das steht diesen Geräten manchmal im Weg. Was mir kein Abo der Welt bieten kann – auch nicht für 290 Euro im Jahr Abo-Gebühren– ist das, was wirklich zählt: eine gute Ärztin oder ein guter Arzt. Oder ein Gespräch. Oder echtes Zuhören. Und genau daran erinnert mich jedes smarte Band, wenn es stumm an meinem Handgelenk liegt.
ⓘ Infokasten
Die Fitbit Charge 6 kostet im Handel rund 140 Euro. Für den vollen Funktionsumfang sind zusätzlich ein Fitbit-Premium-Abo (8,99 €/Monat) sowie ein YouTube-Premium-Abo (12,99 €/Monat) erforderlich. Ohne diese Abos bleiben viele versprochene Features deaktiviert oder stark eingeschränkt. Die Herstellungskosten des Geräts liegen Schätzungen zufolge unter 10 Euro.
Quellen-Nachweis
– Google Store: Produktdetails zu Fitbit Charge 6
– Amazon Storeseite: B0CHN3W617
– Fitbit Premium: https://www.fitbit.com/global/de/products/services/premium
– YouTube Premium Preis: https://www.youtube.com/premium
– OEM-Herstellungskosten vergleichbarer Tracker: techinsights.com, teardown.com
⚠️ Gesundheit ist kein Luxusprodukt. Wer sich durch Technik oder Werbung unter Druck setzen lässt, läuft Gefahr, in Schulden zu geraten für Funktionen, die oft nicht halten, was sie versprechen. Abos können sich schnell summieren, ohne dass man den Nutzen spürt. Achtet auf eure Finanzen, bleibt kritisch – und behaltet die Kontrolle, über euch und euer Konto.