Ständig Hunger im Entzug, gesteigerter Appetit beim Trinken – was lange als Laune des Körpers oder als bloße Begleiterscheinung des Alkohols galt, entpuppt sich mehr und mehr als hormoneller Vorgang. Die Wissenschaft zeigt, dass nicht allein der Wille über die Sucht entscheidet, sondern ein Hormon im Hintergrund Regie führt: Ghrelin, jener unscheinbare Bote aus dem Magen, der eigentlich nur den Hunger melden soll und doch im Verborgenen die Lust am Trinken verstärkt.
Wenn man den Mechanismus der Abhängigkeit verstehen will, muss man tiefer graben als nur in den sozialen oder psychologischen Erklärungen, die seit Jahrzehnten im Umlauf sind. Es reicht nicht, den Alkoholismus allein als gesellschaftliche Krankheit zu betrachten, als ein Produkt von Einsamkeit, Armut oder erlernten Gewohnheiten. Diese Ebenen sind wahr, sie beschreiben den Kontext, aber sie erklären nicht die eigentliche Verankerung der Sucht im Körper. Genau hier betritt ein Akteur die Bühne, den man lange nur am Rande kannte: Ghrelin, das sogenannte Hungerhormon. Bislang war es als Signalgeber für leere Mägen bekannt, als Stoff, der uns an das Frühstück erinnert, noch ehe wir den ersten Kaffee gerochen haben. Doch nun rückt Ghrelin ins Zentrum einer viel größeren Geschichte. Es ist nicht nur ein Appetitanreger, sondern ein möglicher Verstärker der Lust, der Belohnung, der gefährlichen Anziehungskraft des Alkohols. Forscherinnen und Forscher der Universität Göteborg in Schweden haben gezeigt, dass Ghrelin das Gehirn auf eine Weise beeinflusst, die über Hunger hinausgeht. Es dockt nicht nur im Hypothalamus an, wo Überlebenstriebe verwaltet werden, sondern auch im Belohnungszentrum, jenem Areal, das uns den Dopaminschub der Freude schenkt, die süße Bestätigung, dass es sich lohnt, ein Verhalten zu wiederholen. Damit greift Ghrelin in das Herzstück der Abhängigkeit ein: Es verwandelt die nüchterne Information „du bist hungrig“ in einen hochriskanten Verstärker für die Sucht.
Das Dopamin der Versuchung
Man muss sich den Versuch der schwedischen Forscher plastisch vorstellen, um die Tragweite zu begreifen. Mäusen wurde Ghrelin direkt ins Belohnungszentrum des Gehirns injiziert. Danach durften sie zwischen zwei Flaschen wählen: Wasser oder ein Wasser-Alkohol-Gemisch. Die Entscheidung fiel auffällig oft zugunsten des Alkohols aus, die Tiere tranken bis zu 45 Prozent mehr als ihre unbehandelten Artgenossen. Dieses Experiment macht sichtbar, was sonst verborgen bleibt: Der Stoff selbst – der Alkohol – entfaltet seine Macht erst in Verbindung mit den molekularen Voraussetzungen, die unser Körper liefert. Wenn Ghrelin blockiert wurde, sank der Konsum, als ob jemand das Licht im Belohnungszentrum dimmte. Das Dopamin, der eigentliche Motor des Glücksgefühls, floss nicht mehr in Strömen, sondern versiegte. Die Tiere verloren das Interesse. Diese Beobachtung führt mitten hinein in die Logik der Sucht: Nicht der Alkohol ist allein die Droge, sondern die Art, wie das Gehirn auf ihn reagiert. Ghrelin macht die Droge wirksam, es verstärkt die Ausschüttung von Dopamin, und Dopamin ist nichts anderes als die chemische Sprache des „Mehr davon“. Genau in diesem Kreislauf liegt die Gefahr, denn es handelt sich um ein selbstverstärkendes System. Der Rausch belohnt sich selbst, die Wiederholung wird biologisch einprogrammiert.
Hunger und Rausch – eine gemeinsame Sprache
Damit öffnet sich eine irritierende Perspektive: Hunger und Sucht sind enger verwandt, als man denkt. Wer Hunger verspürt, folgt einer Notwendigkeit, einem Signal des Körpers. Wer Alkohol trinkt, folgt einem Verlangen, das zwar nicht überlebensnotwendig ist, aber im Gehirn ähnlich verarbeitet wird. Beide Prozesse bedienen sich derselben Schaltkreise, beide sind mit Ghrelin verknüpft, beide münden im Gefühl der Befriedigung. Das erklärt, warum die Grenzen zwischen Esssucht und Alkoholsucht nicht nur metaphorisch verschwimmen, sondern auf neurobiologischer Ebene. Ghrelin ist ein Übersetzer zwischen dem physischen Hunger und der psychischen Gier. Es erzeugt ein Milieu, in dem Alkohol nicht nur konsumiert, sondern begehrt wird. Und genau das macht es so gefährlich, weil die Logik der Befriedigung für den Körper gleich aussieht, egal ob wir einen Teller Pasta verschlingen oder ein Glas Wein heben. In beiden Fällen winkt Dopamin, in beiden Fällen entsteht das Gefühl, dass die Handlung lohnt. Wer also glaubt, Alkoholismus sei bloß eine Charakterschwäche, unterschätzt die Gewalt des biologischen Systems, das hier am Werk ist. Denn man kann nicht einfach aussteigen, wenn der Körper dieselben Schaltkreise für Hunger und Rausch verwendet. Das ist der Grund, warum Therapien, die allein auf Willenskraft setzen, oft ins Leere laufen: Sie kämpfen gegen einen Mechanismus, der im Körper selbst angelegt ist.
Perspektiven für die Therapie
Die Frage, die sich daraus ergibt, ist zwingend: Wenn Ghrelin tatsächlich eine Schlüsselfunktion für die Alkoholsucht hat, lässt sich dann genau dieser Mechanismus nutzen, um die Krankheit zu behandeln? Die Experimente mit Mäusen deuten darauf hin. Blockiert man Ghrelin, sinkt das Verlangen, weil das Belohnungssystem nicht mehr im gleichen Maße Dopamin ausschüttet. Der Alkohol verliert seinen Reiz. Für die Therapie von Menschen eröffnet sich hier eine neue Tür, die nicht moralisch argumentiert, sondern biochemisch. Statt Schuld und Willensschwäche zu thematisieren, könnte man den Mechanismus selbst angreifen. Medikamente, die die Ghrelin-Wirkung blockieren, könnten die Lust am Alkohol dämpfen, ähnlich wie Nikotinersatzprodukte die Lust auf die Zigarette mildern. Noch sind das Hypothesen, doch die Ergebnisse der Studie, die im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“ veröffentlicht wurde, liefern starke Hinweise. Es wäre ein Paradigmenwechsel: Alkoholabhängigkeit nicht mehr nur als soziale oder psychologische Störung zu sehen, sondern als eine Krankheit, die im Zusammenspiel von Hormonen, Neurotransmittern und Verhalten entsteht. Und wenn das stimmt, dann könnte der Weg aus der Sucht weniger über Schuldgefühle führen, sondern über gezielte Eingriffe in die Biologie. Damit verschiebt sich auch das Bild des Abhängigen. Er ist nicht länger nur der moralisch Gescheiterte, sondern ein Mensch, dessen Körper auf eine bestimmte Weise programmiert ist. Und das zu verstehen, könnte nicht nur neue Therapien ermöglichen, sondern auch eine neue Haltung gegenüber der Sucht selbst.
Zu guter Letzt kann man sagen: „Wer den Alkohol weglässt, kennt das Phänomen: Plötzlich meldet sich ein ungewohnter Hunger, die Verdauung läuft auf Hochtouren, der Körper verlangt nach Ersatz. Was wie eine Laune wirkt, hat eine biochemische Grundlage – Ghrelin übernimmt die Rolle, die früher der Alkohol spielte.“
ⓘ Ghrelin ist ein Hormon, das im Magen gebildet wird und das Hungergefühl auslöst. Es wirkt auf den Hypothalamus, beeinflusst aber auch das Belohnungszentrum des Gehirns. Studien deuten darauf hin, dass Ghrelin die Wirkung von Alkohol verstärkt, indem es die Dopaminproduktion anregt. Wird Ghrelin blockiert, sinkt die Lust am Trinken. Damit gilt es als möglicher Ansatzpunkt für Therapien gegen Alkoholabhängigkeit.
Quellen-Nachweis
Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), Studie von Elisabet Jerlhag et al., Universität Göteborg, zur Rolle von Ghrelin bei der Entstehung von Alkoholabhängigkeit.