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Innenstadt im Ausverkauf

von Carsten Bornhöft
Verlassene Café-Terrasse an einem regnerischen Tag – nasse Stühle, leere Tische, rote Blumen in Blumentöpfen, spiegelnder Asphalt, melancholische Stimmung.

Wenn zwischen Dönerbude und Showfriseur der letzte Händler verschwindet. Wer heute durch deutsche Innenstädte schlendert, sieht vieles – aber selten noch das, was eine Stadt einmal ausmachte. Statt Bücherläden: Handyläden. Statt Schallplatten und Schreibwaren: Bubble-Tea und Billigfriseure. Und dazwischen: Leere. Schaufenster mit Pappwänden, aufgeklebte Träume von „Bald hier: etwas Neues!“, die dann doch nicht kommen. Willkommen im Niemandsland der Möglichkeiten.

Es ist ein schleichender Ausverkauf – nicht nur der Geschäfte, sondern der Geschichten. Wo früher der Inhaber hinter der Theke stand, steht heute ein Schild: „Nur Kartenzahlung – Personal gesucht“. Und wer genauer hinhört, der merkt: Auch die Sprache der Städte ist eine andere geworden. Schneller, lauter, globaler – aber nicht unbedingt reicher.

Laut Handelsverband Deutschland (HDE) sind zwischen 2020 und 2024 über 40.000 Einzelhandelsgeschäfte verschwunden. Innenstädte verzeichnen bis zu 30 % Leerstand – besonders betroffen sind Mittelstädte. Der Onlinehandel, steigende Mieten, Energiepreise und Personalmangel gelten als Hauptursachen.

Doch nicht nur der Konsum geht, auch das Leben zieht sich zurück. Wo in den 80er- und 90er-Jahren das urbane Herz am Abend noch pulsierte, hört man heute höchstens das Klicken von Wohnungsschlüsseln oder das leise Schnurren einer Hauskatze, so still ist es geworden. Die Gentrifizierung hat ihre Arbeit getan – schleichend, aber gründlich.

Luxussanierte Altbauten und hochpreisige Eigentumswohnungen ersetzen das, was früher erschwinglich war. Mit dem Kapital kam die Ruhe, und mit der Ruhe die Forderung nach noch mehr davon. Neue Bewohner klagen gegen Altstadt-Kneipen, gegen Musik, gegen das, was man früher „städtisches Leben“ nannte. Und gewinnen. Was bleibt, ist ein entseelter Stadtkörper – blitzblank, aber blutleer.

Die Innenstädte wirken inzwischen so leer wie an einem verregneten Sonntagnachmittag, an dem niemand vor die Tür will – nur dass es draußen längst nicht mehr regnet. Es fehlt nicht das Wetter, sondern der Wille, sich dort noch aufzuhalten. Unter den Stadtarkaden schlafen Arbeitslose, während über ihnen Designerküchen entstanden sind – Hochglanz-Oasen, in denen mit Thermomix und Trüffelöl das perfekte Drei-Gänge-Menü zubereitet wird, während draußen der Mensch seine Suppe löffelt, die das Herzenswärme-Mobil gerade vorbeigebracht hat. Unten Mangel, oben Lifestyle. Eine Stadt, zwei Welten – durch ein paar Etagen getrennt, aber durch nichts verbunden. Auf den Balkonen gedeiht Basilikum, aber keine Nachbarschaft. Es sind Städte geworden, in denen das Leben nicht mehr stattfinden darf – es stört beim Wohnen. Wo früher Begegnung war, ist nun Besitz. Und Besitz hat wenig Interesse an Öffentlichkeit.

Was bleibt, ist das, was sich kurzfristig noch irgendwie hält: Ketten mit austauschbarem Sortiment, Franchises ohne Bezug zur Stadt – und eine Handvoll Nagelstudios, die eher wie temporäre Erscheinungen wirken als wie feste Einrichtungen. Die Discounter haben sich längst auf die grüne Wiese zurückgezogen, dorthin, wo man noch bequem parken kann – was bleibt, sind Reste einer Infrastruktur, die nichts mehr mit echter Nahversorgung zu tun hat.

Und selbst wer noch in der Innenstadt wohnt, bleibt meist hinter der eigenen Tür. Der Mensch kommt von der Arbeit nach Hause – und geht nicht mehr aus. Statt durch die Straßen zu flanieren, bestellt er sich eine Pizza von einem Lieferdienst, der irgendwo am Stadtrand operiert. So wird selbst die Nahrung zur Fernbeziehung. Die Stadt bleibt da – aber sie wird nicht mehr betreten.

Tagsüber herrscht noch eine gewisse Betriebsamkeit. In den Büros sitzen Anwälte, Makler, Versicherungsleute, Gutachter – sie schreiben, telefonieren, verwalten das Leben anderer. Gegen 16 Uhr gönnt man sich noch einen Cappuccino im Straßencafé, ein paar letzte Gespräche unter Kollegen – und dann leert sich das Viertel wie ein Sitzungssaal nach Ende der Verhandlung. Was folgt, ist nichts. Kein abendlicher Trubel, keine Impulse. Nur gedämpftes Licht hinter Glasfassaden – und davor: Stille.

Auch die Kultur hat sich zurückgezogen. Die Kinos kämpfen mit Streamingdiensten, die Theater mit Desinteresse, die Kneipen mit Lärmschutzverordnungen und dem letzten verbliebenen Zapfhahn. Vieles ist verschwunden, anderes bleibt geöffnet – doch oft für einen Saal, der sich nicht mehr füllt. Was früher Treffpunkt war, ist heute Nischenangebot. Und was einmal Gemeinschaft bedeutete, ist zum Event für Eingeweihte geworden.

Die Gastronomie, einst Seele und Schaufenster einer Stadt, gleicht heute einer Mischung aus Franchise-Food und Lieferservice. Die letzte inhabergeführte Kneipe stirbt nicht am Bierpreis – sondern an der Vereinzelung. Wer allein lebt, bleibt allein. Wer ausgehen könnte, bleibt zu Hause. Und die Stadt, die einst durch das Licht der Fenster atmete, atmet nun nur noch durch die Laternen der Stadtreinigung.

Noch gibt es Apotheken – doch auch hier zeichnet sich ein Trend ab, der unausweichlich wirkt. Denn wenn selbst die Apotheke verschwindet, geht mehr verloren als nur ein Ort zur Medikamentenabgabe. Dann stirbt auch ein Stück Nahversorgung, das soziale Fragen mit pharmazeutischem Wissen verband. Die Nachfrage nach einem Rat, das Gespräch über den Tresen, das kurze Treffen mit dem Nachbarn – all das sind stille Rituale, die eine Stadt zusammenhalten.

Wenn solche Orte verschwinden, wird die Innenstadt endgültig zur bloßen Durchlaufzone. Dönerbuden stillen den Hunger, aber keine Einsamkeit. Showfriseure föhnen Frisuren, aber keine Beziehungen. Was bleibt, ist ein Zustand, der nicht nur wirtschaftlich, sondern auch seelisch entkernt. Denn was ist eine Stadt ohne ihre Mitte – und ohne jene Orte, an denen man sich noch als Mensch begegnet?

In der Soziologie spricht man von der „Verödung des öffentlichen Raums“ – als wäre das nur ein Phänomen der Urbanistik. In Wahrheit ist es ein kultureller Infarkt. Der Verlust an Vielfalt, Dialog, zufälligen Begegnungen. Wer heute etwas „erleben“ will, wird ins Einkaufszentrum gedrängt – betonierte Konsumkathedralen, voll von Lärm und Leere.

Doch das Problem ist nicht nur strukturell. Es ist auch politisch gewollt – durch jahrelange Passivität. Förderprogramme, die nie dort ankommen, wo sie gebraucht würden. Städtebau, der sich in Pflasterstein-Debatten verliert. Und Bürgermeister, die auf „Pop-up-Stores“ hoffen wie auf einen Lottogewinn.

Dabei gäbe es Lösungen. Räume für Genossenschaften, lokale Manufakturen, steuerliche Entlastungen für inhabergeführte Läden. Doch solange die Förderkulisse hübscher ist als die Realität dahinter, wird kein Mensch zurückkehren, der einst wegging. Nicht für eine zweite Dönerbude. Nicht für noch mehr Ramsch aus den 1 Euro Läden. Nicht für Showfriseure mit Ringlicht und Glitzerfolie.

Der Händler, der bleibt, ist der letzte seiner Art. Er verkauft keine Träume mehr, sondern Restposten. Er kennt die Namen seiner Kunden noch – und weiß, dass sie bald nicht mehr kommen. Vielleicht zieht er selbst bald um – ins Netz, ins Nichts.

Die Frage ist nicht, wie viele Läden noch schließen.
Die Frage ist: Was wird dann aus uns?

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