Die Bürgergeld-Reform als Stolperstein der neuen Regierung – eine redaktionelle Analyse.
Der neue Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD ist besprochen, die Parteimitglieder sollen nun zustimmen. Was hier von vielen Köpfen in vielen Stunden erdacht wurde, war zweifellos eine intensive Arbeit – aber sie ist nicht frei von Fehlern. Die Frage steht im Raum, ob gerade jene mit sozialer Verantwortung in den Parteien diesen Kurs wirklich mittragen können. Und auch, ob sich auf dieser Grundlage eine tragfähige Regierung bilden lässt. Ein Punkt ragt dabei besonders heraus: die geplanten Veränderungen beim Bürgergeld. In diesem Artikel hat die Redaktion von yivee.de recherchiert, Stimmen gesammelt, Meinungen eingeholt und die Stimmungslage abgebildet, wie sie sich vielerorts in der Öffentlichkeit niederschlägt – leise, aber unüberhörbar.
Rückschritt statt Perspektive
Besonders gravierend sind die geplanten Verschärfungen beim Bürgergeld. Was nach technischer Feinjustierung klingt, ist in Wahrheit ein sozialpolitischer Rückschritt. Während die Preise für Lebensmittel, Mieten und Energie weiter steigen, soll der staatlich garantierte Mindeststandard für Bedürftige – das sogenannte Bürgergeld – künftig wieder langsamer wachsen. Anders gesagt: Wer ohnehin wenig hat, soll künftig mit noch weniger auskommen. Die Koalition plant, den Anpassungsmechanismus an die Inflation auf das Niveau vor der Corona-Pandemie zurückzuführen. Eine Formulierung, die trocken klingt, aber für viele zur bitteren Realität wird – besonders für jene, die mit jedem Cent rechnen müssen. Diese Regierung hat kein Problem mit Inflation – solange sie nicht die Regelsätze betrifft.
Armut lässt sich nicht einfrieren wie Fördermittel. Sie wächst. Sie kriecht in die Regale der Supermärkte, in die Fahrkartenautomaten, in die Nebenkostenabrechnungen. Und wer dann sagt, man müsse „wieder zum alten Mechanismus“ zurückkehren, der glaubt vermutlich auch, man könne den Winter absagen, weil man die Heizung nicht mehr zahlen will.
Und wer in die Arbeit gezwungen wird, ohne die Voraussetzungen dafür zu schaffen, steht oft vor einem ganz anderen Problem: Er kommt gar nicht erst hin. Der öffentliche Nahverkehr ist vielerorts teuer, schlecht getaktet oder schlicht nicht vorhanden. Wer außerhalb der Metropolen lebt und Arbeitszeiten hat, die nicht zum Fahrplan passen, wird auf Fahrrad oder Auto verwiesen. Das Fahrrad geht vielleicht noch – im Sommer, ohne Kind, ohne Wetter. Das Auto? Zu teuer, zu wenig unterstützt. Auch hier bleibt der Regelsatz für Aufstocker niedrig – und das bei Menschen, die oft härter arbeiten als mancher Beamter.
Ein Aspekt, der dabei kaum öffentlich thematisiert wird, ist die Wohnsituation. Es geht nicht allein um fehlenden Wohnraum – sondern darum, dass Bürgergeldempfänger ihre Miete nur dann vollständig erstattet bekommen, wenn die Wohnung als „angemessen“ gilt. Doch durch steigende Energiepreise und Nebenkosten droht dieses System zu kippen. Die Miete mag übernommen werden, aber die Nebenkosten treiben viele Menschen an den Rand. Stromsperren könnten wieder zunehmen, und mit ihnen die Zahl derer, die ihre Wohnung verlieren. Die Folge: steigende Obdachlosigkeit – nicht trotz, sondern wegen eines Sozialsystems, das an der Realität vorbeireguliert ist.
Rechtslage, Realität und Willkür
Ein weiterer zentraler Punkt betrifft die Regelsatzbemessung selbst. Zumal das Bundesverfassungsgericht zuletzt selbst Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelsatzermittlung angemeldet hat: Die Leistungen seien nicht evident unzureichend, so die Richter, doch die Berechnung genüge nicht den Maßstäben eines transparenten und nachvollziehbaren Verfahrens. Es fehlt an einer klaren Regelung für atypische Bedarfslagen. Das heißt: Selbst der bisherige Mechanismus ist juristisch fragwürdig – und soll nun weiter verschärft werden?
Eine Totalverweigerung von Leistungen ist zudem gesetzlich überhaupt nicht möglich, zumindest nicht ohne eine umfassende Gesetzesänderung – und ob der Bundesrat bei einem solchen Kurs mitziehen würde, ist mehr als fraglich. Selbstverständlich bedarf es der Mitarbeit des Bürgergeldbeziehenden, das steht außer Frage. Wer sich tatsächlich dauerhaft und grundlos verweigert, dem sollte man in einem rechtsstaatlichen Rahmen durchaus klare Grenzen setzen. Doch die Darstellung von ‚Verweigerung‘ muss gesetzlich klar definiert und nachvollziehbar geregelt sein. Es kann nicht sein, dass ein Beamter oder eine Jobcenter-Mitarbeiter:innen über ein ganzes Leben entscheidet, ohne sich auf eine tragfähige gesetzliche Grundlage stützen zu können. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass es viele Entscheidungen gab, die menschlich nicht nachvollziehbar und rechtlich mehr als fragwürdig waren.
Was Teilhabe wirklich heißt
Man muss sich vor Augen halten: Teilhabe muss auch Teilhabe bedeuten. Es genügt nicht, in einem fiktiven Warenkorb einen Betrag von 3,86 Euro für den monatlichen Kinobesuch zu veranschlagen – in der Annahme, dass man dann alle drei Monate einen Film sehen darf. Das sind realitätsferne Konstruktionen, die niemand mehr versteht. Sie schaffen keine Gerechtigkeit, sie verwalten Distanz. Es ist an der Zeit, genau solche Regeln zu überarbeiten – und nicht, sie als Grundlage für Sparmaßnahmen zu verwenden.
Teilhabe bedeutet auch, dass reiche und arme Kinder aufwachsen können, ohne dass man ihnen schon im Grundschulalter ihren sozialen Status ansieht. Dass fünf Kinder aus derselben Straße – zwei aus wohlhabenden Familien, zwei aus prekären Verhältnissen und eines mit Migrationsgeschichte – nicht auf Dauer voneinander entfremdet werden. Es ist keine Lösung, auf Förderprogramme zu verweisen, wenn grundlegende Dinge wie ein Smartphone, ein Klassenausflug oder ein Musikunterricht zur Ausnahme werden. Wer ein iPhone 15 mitbringt, während das Nachbarskind sich keine Monatskarte leisten kann, der lebt in einem System, das nicht ausgleicht, sondern trennt. Bildung, Zugang und Würde dürfen nicht am Geldbeutel der Eltern scheitern. Wenn ein Koalitionsvertrag das Soziale ernst nimmt, dann muss dort auch stehen, dass Kinder dieselben Chancen haben sollen – unabhängig davon, ob ihre Eltern Bürgergeld beziehen oder nicht.
Wer Teilhabe fordert, muss sie auch ermöglichen. Und wer an einer Gesellschaft bauen will, die miteinander leben kann, darf nicht beim Regelsatz anfangen zu sparen.
Doch nicht nur Menschen, die aus dem Erwerbsleben gefallen sind, treffen auf dieses System. Auch jene, die neu in Deutschland sind, geflüchtet, entwurzelt, oft schwer traumatisiert, werden ihm ausgesetzt. Wer aus der Ukraine kommt, wer vor den Bomben Aleppos geflohen ist, wer mit nichts als Hoffnung ankommt, bekommt zwar Unterkunft, manchmal Unterstützung – aber zu oft Misstrauen. Es ist nicht die Flucht, die zermürbt. Es ist der Empfang. „Willkommen“ steht auf dem Schild, aber „Erst Antrag A38“ auf dem Formular. Und das in einer Sprache, die selbst viele deutsche Bürger kaum verstehen, wenn sie ein Amt betreten. Verwaltung als Barriere, nicht als Hilfe – das ist impertinent, fast zynisch. Menschen, die Hilfe brauchen, werden sprachlich ausgesperrt und strukturell entmutigt. Dass genau solche Realitäten keinen Platz in einem Koalitionsvertrag finden, lässt zweifeln, ob das soziale Denken in der Politik nicht längst durch juristische Routine ersetzt wurde. Die Regelungen verhindern Erwerbstätigkeit aus Herkunftsgründen. Menschen, die dringend arbeiten möchten, dürfen nicht. Menschen, die einst in Syrien Zahntechniker waren, schieben hier Aktenordner. Ihre Abschlüsse gelten nicht, ihre Würde wird eingelagert. Gleichzeitig wird über sie gesprochen, als würden sie das System ausnutzen, während man ihnen nicht einmal erlaubt, sich einzubringen. Das ist kein Integrationsversuch. Das ist eine Auslagerung des Gewissens in Paragrafen.
Währenddessen spricht der Koalitionsvertrag davon, Einsamkeit erforschen zu wollen. Bei Kindern, bei Jugendlichen und bei Senioren. Als wäre Einsamkeit eine neue Erscheinung. Als ließe sie sich in Daten fassen. Dabei ist sie längst überall. Sie ist ein Ergebnis der sozialen Kälte, die dieser Vertrag nicht bekämpft, sondern verwaltet. Einsamkeit ist kein Forschungsobjekt. Sie ist die logische Folge einer Politik, die Menschen nur noch nach ihrer Verwertbarkeit misst. Wer hungert, wer fürchtet, wer stumm bleibt, ist nicht isoliert – er ist politisch übersehen worden.
Was aus diesen Beobachtungen folgt, ist kein Appell. Es ist eine Mahnung. Dass Menschen nicht nur Leistungen brauchen, sondern auch Anerkennung. Soziale Systeme sind mehr als bloße Regelwerke – sie beruhen auf zwischenmenschlichen Beziehungen, die den sozialen Zusammenhalt bilden. Armut lässt sich nicht allein anhand von Zahlen und Statistiken erfassen, sondern nur, wenn man die zugrunde liegenden sozialen und wirtschaftlichen Ursachen erkennt. Und dass eine Sozialdemokratie, die dabei zusieht, wie Menschen aus dem System gedrängt werden, ohne einzugreifen, irgendwann nicht mehr gebraucht wird. Genau das erklärt auch die Wählerabwanderung der vergangenen Jahre – nicht nur zur politischen Konkurrenz, sondern ins Schweigen, in die Resignation, in die Distanz. Wer sich nicht mehr vertreten fühlt, wendet sich ab. Nicht aus Trotz, sondern aus Müdigkeit. Die SPD muss, wenn sie politisch überleben will, endlich wieder finden, wofür sie einmal stand: für die Rechte der Schwachen, für den Schutz der Übersehenen, für einen Staat, der nicht verwaltet, sondern gerecht handelt. Wenn sie diese sozialen Werte wieder ernst nimmt, dann wären Sätze wie jene aus dem aktuellen Koalitionsvertrag mit Sicherheit nicht mehr zu lesen.
Nun müssen die Mitglieder der Parteien noch zustimmen – ein notwendiger Akt, der oft mehr Formsache als ernsthafte Hürde ist. Erst danach werden die Gesetze formuliert und, wenn alles gut geht, verabschiedet. Doch bis zu diesem Punkt bleibt eine entscheidende Frage: Wird die neue Regierung den Weg der sozialen Verantwortung gehen, oder lässt sie die Schwächsten auch weiterhin im Regen stehen? Die kommende Entscheidung wird weit mehr sein als ein politisches Manöver – sie wird den Maßstab für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft setzen. Es bleibt abzuwarten, ob die Worte der Koalition dem tatsächlichen Willen zur Gemeinschaft und Solidarität entsprechen oder nur hohle Versprechungen bleiben.