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Moderne Technik auf der Ostsee

by Thomas Wendtland
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Scandlines-Fähre Copenhagen mit Rotorsegel beim Einlaufen in den Hafen von Warnemünde

Von drehenden Zylindern, alten Ideen und der Rückkehr der Vernunft

Wenn man in Warnemünde an der Mole steht und am Horizont ein Rohr auftaucht, das sich langsam im Blickfeld zu einem Schiff formt, dann sammeln sich die Menschen an der Promenadenspitze. Sie schauen, rätseln, fragen sich, was dieses sonderbar aufragende Gebilde auf dem Deck zu bedeuten hat. Es dreht sich, fast lautlos, ein Zylinder in Bewegung, der sich gegen den Himmel stemmt, als wolle er nicht auffallen – und tut es gerade deshalb. Denn was aus der Ferne wie ein überdimensionierter Schornstein wirkt, ist in Wahrheit ein Sinnbild technischer Wiederentdeckung: ein Flettner-Rotor, aufgerichtet nicht aus dekorativer Laune, sondern als Teil eines Systems, das längst als vergessen galt und nun wieder als Hoffnungsträger auf See zurückkehrt.

Es ist eine der leisen Ironien der Technikgeschichte, dass ausgerechnet eine Idee aus der Zwischenkriegszeit, geboren im Kopf eines experimentierfreudigen Ingenieurs, heute wieder Fahrt aufnimmt. Anton Flettner, dessen Name in Luftfahrtkreisen noch Resonanz hat, hatte nichts Geringeres vor, als den Wind neu zu denken. Die Grundlage seines Konzepts war der sogenannte Magnus-Effekt, jenes physikalische Phänomen, bei dem ein rotierender Körper – in diesem Fall ein senkrechter Zylinder – durch die Strömungsgeschwindigkeit des Windes eine seitliche Kraft erfährt. Diese Kraft lässt sich, wie Flettner zeigte, in Vortrieb verwandeln. (Eine ausführliche Erklärung dieses Effekts findet sich unter Magnus-Effekt auf Wikipedia).

Bereits 1926 ließ Flettner ein Schiff mit solchen Rotoren ausrüsten. Die „Buckau“ überquerte den Atlantik, stieß auf internationale Aufmerksamkeit, aber auch auf konservative Zurückhaltung. Die Welt war noch nicht bereit für diese Technik. Öl war billig, der Fortschrittsbegriff motorisiert, der Wind galt bestenfalls als romantisches Überbleibsel vergangener Segelzeiten. Der Rotor verschwand, archiviert im Gedächtnis der Physik, ein zu früh geborener Gedanke, der keinen wirtschaftlichen Atem fand.

Doch die Gegenwart hat sich verändert. Die Schlagwörter heißen heute Dekarbonisierung, Emissionshandel, nachhaltige Logistik. In dieser neuen Sprache des Wandels beginnt man, alten Konzepten wieder zuzuhören – besonders dann, wenn sie mehr versprechen als grüne Rhetorik. Und so taucht der Flettner-Rotor erneut auf, diesmal nicht als Einzelstück, sondern als Baustein einer neuen maritimen Bewegung. Die Ostsee, in ihrer geographischen Enge und Windfrequenz, wird zur idealen Versuchsstrecke. Fähren, die täglich zwischen Deutschland, Dänemark, Schweden und Finnland pendeln, übernehmen die Rolle moderner Testlabore.

Ein besonderer Moment war der Mai 2020, als Scandlines auf ihrer Hybridfähre Copenhagen ein Rotorsegel installierte – 30 Meter hoch, gefertigt vom finnischen Anbieter Norsepower, ausgelegt für den täglichen Fährbetrieb zwischen Rostock und Gedser. Das Ergebnis war ein messbarer Erfolg: eine durchschnittliche CO₂-Reduktion von fünf Prozent, bei optimalen Bedingungen sogar deutlich mehr. Keine theoretische Zahl, sondern eine Bilanz aus realer Fahrt.

Die Folge ließ nicht lange auf sich warten. Im Frühjahr 2022 wurde auch das Schwesterschiff Berlin nachgerüstet. Der Einbau dauerte nur wenige Stunden, die Wirkung entfaltet sich bis heute. Beide Schiffe verkehren auf einer Route, die fast senkrecht zur Hauptwindrichtung verläuft – ideale Voraussetzungen für das Zusammenspiel von Natur und Technik.

Was diese Rotoren besonders bemerkenswert macht, ist ihre Selbstständigkeit. Sensoren messen permanent die Windverhältnisse. Wenn diese günstig sind, aktiviert sich das System automatisch. Es ergänzt den Motorantrieb, reduziert dessen Leistung, senkt den Kraftstoffverbrauch – und bleibt bei Hafenmanövern oder ungünstigen Bedingungen schlicht deaktiviert. Eine Technik, die sich anpasst, statt sich aufzudrängen.

Doch was fasziniert, ist nicht nur der Wirkungsgrad. Es ist das stille Bild der Funktion. Während viele technische Fortschritte unsichtbar verbaut sind – in Apps, Leitständen, Rechenzentren –, bleibt der Rotor sichtbar. Er steht auf dem Deck, nicht versteckt, nicht geschönt. Er arbeitet öffentlich. Seine Drehung ist keine Inszenierung, sondern Ausdruck eines schlichten Gedankens: Wenn der Wind ohnehin da ist, warum ihn nicht nutzen?

Deutschland selbst ist – trotz technischer Kompetenz – noch zögerlich. Forschungsprojekte existieren, einzelne Pilotversuche werden gefördert, doch der große Durchbruch bleibt aus. Dabei wäre gerade der deutsche Schiffbau in der Lage, hier nicht nur nachzurüsten, sondern zu prägen. Vielleicht liegt es auch an der Art, wie Innovation hierzulande verstanden wird – oft als radikaler Neuanfang, selten als würdige Wiederaufnahme.

Denn die Wiederentdeckung des Flettner-Rotors ist mehr als eine technische Rückbesinnung. Sie ist ein Zeichen für ein Denken, das nicht alles neu machen muss, um modern zu sein. Manchmal reicht es, alte Ideen neu zu bewerten – mit den Mitteln und Anforderungen der Gegenwart. Fortschritt bedeutet nicht, sich vom Vergangenen zu lösen, sondern es klug weiterzudenken. Die Ostsee, in ihrer beständigen Bewegung, liefert dazu den passenden Hintergrund.

Vielleicht werden diese Rotoren bald kein Gesprächsthema mehr sein. Vielleicht gehören sie in einigen Jahren einfach dazu – wie der Bugstrahlruder oder die Hybridbatterie. Vielleicht schauen dann die Menschen in Warnemünde nicht mehr verwundert, sondern wissend. Der Rotor wird sich drehen, so wie er es immer getan hat – ruhig, unaufgeregt, seinem eigenen Prinzip folgend.

Denn Veränderung, das zeigt sich hier sehr klar, beginnt nicht mit einem Paukenschlag. Sie beginnt dort, wo Bewegung entsteht. Wo aus einer Idee eine Anwendung wird. Wo sich Technik und Natur nicht gegenseitig bekämpfen, sondern gegenseitig verstehen lernen. Es ist kein heroischer Wandel. Aber es ist einer, der bleibt.

Yivee.de

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