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Obdachlosigkeit – Abstellgleis

von Thomas Wendtland
Eine ältere Frau schläft erschöpft in einem leeren Zugabteil – Symbol für die stille Wohnungslosigkeit in Deutschland.

Sie fahren im Kreis, weil sie kein Zuhause mehr haben: Alte Menschen, die durch Modernisierung verdrängt wurden, suchen in Zügen Schutz vor Kälte und Einsamkeit. Eine Gesellschaft im Rückzug – und eine Politik, die versagt.

Leben im Zug

In den sozialen Netzwerken häufen sich die Meldungen, in Videos und Kommentaren, in Reportagen auf YouTube und TikTok. Immer mehr Menschen, oft alt, sichtbar erschöpft, verbringen ihre Nächte in S-Bahnen, ihre Tage in Regionalzügen – nicht aus Abenteuerlust, sondern weil sie keine andere Wahl haben. Weil sie ihre Wohnung verloren haben, häufig durch eine Sanierung, die das alte Zuhause unerschwinglich machte. Sie suchen Wärme, Schutz, und vielleicht auch ein bisschen Würde. Was bleibt, ist Bewegung im Kreis – durch Städte, durch Tage, durch Systeme, die sie längst ausgespuckt haben.

Was wie eine Randnotiz des Wohnungsmarktes klingt, ist in Wahrheit eine massive, systemische Schwachstelle in unserer Sozialarchitektur. Wohnungslosigkeit ist kein Phänomen der Gosse, sondern längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Sie ist nicht immer sichtbar. Aber spürbar. In den Gesprächen derer, die plötzlich keine Adresse mehr angeben können. In der Müdigkeit der Gesichter, die jeden Tag auf den gleichen Plätzen in den gleichen Bahnen sitzen, als wären sie Teil einer lebenden Geisterlinie.

Die Vertreibung durch Sanierung

Die Gesetze zur Mietpreisbildung nach Modernisierung sind ein juristisches Detail mit dramatischer Wirkung. Die sogenannte Modernisierungsumlage erlaubt es Vermietern, acht Prozent der aufgewendeten Sanierungskosten dauerhaft auf die Miete aufzuschlagen. Klingt nach Investition in den Bestand. Bedeutet aber oft das Gegenteil: Verdrängung durch Aufwertung. Aus alten Wohnungen werden Filetstücke. Aus langjährigen Mietern werden Nutzungsstörer.

Das Ziel: Mietsteigerung unter dem Deckmantel der Energieeffizienz. Der Effekt: Menschen, deren Rente kaum für das Nötigste reicht, werden zu Untermietern in ihrer eigenen Biografie. Die betagte Dame, die jahrzehntelang ihren Kiez kannte wie ihr Wohnzimmer, wird durch ein Schreiben aus der Hausverwaltung entwurzelt. Ihr wird erklärt, dass ab dem nächsten Monat die Miete um 300 Euro steigt. Sie versteht das Schreiben nicht, spricht niemanden darauf an. Denn sie glaubt, es sei ihre Schuld.

Die stille Wohnungslosigkeit

Wohnungslosigkeit ist nicht immer gleich Obdachlosigkeit. Es gibt einen Raum dazwischen, in dem Menschen leben, die keinen Wohnsitz mehr haben, aber auch nicht auf Parkbänken schlafen. Sie übernachten in Bussen, Bahnhöfen, in Tageseinrichtungen oder auf den Sofas von Bekannten. Sie erscheinen in keiner Statistik. Sie haben keine Stimme. Aber sie existieren. Und sie werden mehr.

Laut einer Erhebung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe lebten zuletzt rund 530.000 Menschen in Deutschland ohne eigene Wohnung. Fast 50.000 von ihnen leben auf der Straße. Der Rest ist irgendwo dazwischen – in Notunterkünften, bei Freunden, oder eben in Verkehrsmitteln. Besonders gefährdet: Menschen über 60. Viele von ihnen schämen sich. Viele wissen nicht, dass sie Anspruch auf Wohngeld, Sozialhilfe oder Beratung hätten. Und selbst wenn – viele dieser Anlaufstellen sind bürokratisch so schwer zugänglich wie ein alter DDR-Grenzübergang bei Nacht.

Die Behörden, so scheint es, verwalten lieber, als sie begleiten. Die Formulare sind komplex, die Wege in die digitalen Angebote versperrt für jene, die noch nicht einmal ein Smartphone besitzen. Was fehlt, ist niedrigschwellige Information. Was fehlt, ist Respekt vor Lebensleistung. Was fehlt, ist Haltung.

Doch auch die Gesellschaft selbst trägt Verantwortung. Der Blick für das Abgehängte ist stumpf geworden. Wer durch den Park läuft, wechselt die Straßenseite, wenn eine Plastiktüte zur Matratze wird. Die Geste des Gebens, früher selbstverständlich, ist zur Ausnahme geworden. Die großen karitativen Einrichtungen klagen über schwindende Ressourcen, das Ehrenamt ringt um Nachwuchs, Spendenkampagnen verhallen inmitten algorithmischer Gleichgültigkeit. Was früher christliche oder soziale Pflicht war, ist heute eine seltene private Entscheidung – oft mit schlechtem Gewissen, aber ohne Konsequenz.

Was bleibt: Die Frage nach dem Maß

In einer Gesellschaft, die sich an Wirtschaftskraft und Wachstum berauscht, gilt der Mensch, der nichts mehr besitzt, als Betriebsunfall. Doch das ist falsch. Die Wohnung ist keine Aktie, sondern ein Grundrecht. Wenn alte Menschen durch Mietsteigerungen ihre Bleibe verlieren, verlieren wir als Gesellschaft den Anspruch auf zivilisatorische Reife.

Was wir sehen, ist nicht nur Armut. Es ist eine Mischung aus Unwissenheit, Scham und einem System, das lieber Zettel verschickt, als Menschen zu erreichen. Es ist die Rückkehr eines Klassenkampfes mit anderem Vokabular – aber denselben Opfern.

Es wäre einfach, an dieser Stelle eine Lösung zu fordern. Doch erst die Verbindung dieser Forderungen macht die Dimension der Herausforderung sichtbar. Mehr Sozialwohnungen, um Wohnraum nicht dem freien Markt zu überlassen. Härtere Gesetze gegen Miethaie, die systematisch Menschen aus ihren Wohnungen drängen. Der konsequente Schutz sozialer Nachbarschaften, weil das Wohnen mehr bedeutet als vier Wände – es bedeutet Teilhabe, Verlässlichkeit, Zusammenhalt. Und nicht zuletzt der Schutz gewachsener, nachbarschaftlicher Strukturen, die durch massenhaften Ferienwohnraum zerstört werden. Mehr Geld für Beratungsstellen ist ebenso unerlässlich. All das stimmt. Doch vor allem braucht es Haltung. Die Bereitschaft, nicht wegzusehen. Die Courage, zu fragen: Wo schläfst du heute Nacht?

Die Wohnungslosigkeit der Alten, die Vertreibung durch Sanierung, das Leben in Zügen – das alles sind Symptome eines Landes, das die Schwächsten aus dem Blick verliert. Es ist an uns, diesen Blick zu schärfen. Nicht mit Pathos. Sondern mit Präzision.

Und es ist höchste Zeit, dass sich die Politik ihrer Verantwortung nicht länger entzieht. Die rhetorischen Solidaritätsbekundungen, die auf Parteitagen beklatscht werden, reichen nicht mehr. Es braucht Taten. Es braucht mutige Entscheidungen, die nicht den Immobilienmarkt schonen, sondern Menschen schützen. Es braucht eine Umkehr – weg von einem politischen Betrieb, der sich überbordend bedient, während Rentnerinnen in U-Bahnen frieren. Die CDU hat in Jahrzehnten den sozialen Wohnungsbau abgebaut. Die SPD hat dabei zugesehen. Es ist kein Versäumnis mehr – es ist ein strukturelles Versagen. Wer heute regiert, muss morgen erklären, warum er das Gesicht der Republik den Börsen überlassen hat. Und so, wie es aussieht, setzt auch die neue Bundesregierung diesen asozialen Kurs fort. Es geht ihr offenkundig nicht um die Menschen am Rand, sondern um die Pflege der eigenen Klientel. Dass dabei Menschen in Zügen stranden, weil sie sich kein Zuhause mehr leisten können, ist dieser Regierung bislang offenbar gleichgültig.

Wir brauchen ein Recht auf Wohnung, das nicht nur auf dem Papier steht. Wir brauchen Investitionen, nicht Ausreden. Und wir brauchen den politischen Mut, sich nicht länger hinter Zahlen zu verstecken. Die Würde des Menschen darf nicht von der Miete abhängen.

ⓘ Mieterhöhung ist nur mit schriftlicher Begründung zulässig. Besonders bei Modernisierungen gibt es gesetzliche Grenzen. Härtefälle: Das Sozialamt kann unterstützen, wenn die neue Miete nicht tragbar ist. Wohngeld kann auch rückwirkend beantragt werden – bei Rentner:innen lohnt sich der Antrag oft besonders. Bei Kündigung: sofort juristische Beratung holen (z. B. Mieterverein, Stadt). Hilfe ist kostenlos – besser früh fragen als alles verlieren.

Quellen-Nachweis
Deutscher Bundestag: Abgeordnetengesetz § 11 Abs. 4
ProSieben: Bericht zur Diätenerhöhung 2025
Tagesschau.de: Nullrunde beim Bürgergeld 2025
Spiegel.de: Analyse zur Inflationsentwicklung und Sozialpolitik
FR.de / Welt.de: Parlamentarische Reaktionen und Kritik von Oppositionsparteien

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