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Sommer, Sound und Sehnsucht

von Carsten Bornhöft
Festivalbesucher mit Lederweste und erhobenem Arm vor einer Konzertbühne bei Tageslicht

Warum wir Festivals brauchen, auch wenn wir sie verfluchen

Ein Plakat, halb vom Wind zerfleddert, hängt am Laternenmast. Kieler Woche. Fusion. Elbjazz. Hurricane. Die Buchstaben blass, aber unübersehbar. Der Sommer kündigt sich nicht mehr an – er bricht einfach herein. Und mit ihm ein kulturelles Phänomen, das zwischen kollektiver Ekstase und zivilisatorischer Belastungsprobe schwankt: das Festival.

Was für manche der Inbegriff von Freiheit ist, bedeutet für andere Reizüberflutung, die nur mit Sonnencreme, Gehörschutz und einem doppelten Kaffee auszuhalten ist. Doch jenseits aller Lagerfeuerromantik ist das Ritual eindeutig: Jedes Jahr zieht es Millionen zu Bühnen, Wiesen und Wasserlinien. Und zwischen Fischbrötchen und Funkgitarre formt sich die alte Sehnsucht: nach Klang, nach Rausch, nach einem Gefühl, das man nicht streamen kann.

Nehmen wir die Kieler Woche. Offiziell ein Segelwettbewerb mit Historie. Inoffiziell: ein brodelndes Gemisch aus Straßenmusik, Bierständen, Bühnen-Acts und norddeutscher Selbstvergewisserung. Eine Woche, in der Hochkultur auf Halbliter trifft, Familientag auf Feierrausch, Segler auf Punkbands. Und irgendwo dazwischen: eine Ahnung davon, dass Kultur auch zwischen Bratwurst und Breakbeat entstehen kann.

Aber was zieht uns wirklich hin? Warum lassen sich Menschen freiwillig in überfüllte Züge quetschen, um dann in einem Feld zu schlafen, das spätestens ab dem zweiten Tag wie eine Mischung aus Biotonne und ausgelaufener Bierkiste riecht? Vielleicht, weil ein Festival mehr ist als Musik. Es ist Ausnahmezustand mit System. Eine temporäre Gesellschaft, in der Nähe, Freiheit und Kontrollverlust als Versprechen gelten, nicht als Risiko.

Die Soziologie spricht von „temporären Gemeinschaften“ – Menschen, die einander nicht kennen und doch für ein paar Tage dasselbe wollen: Bedeutung im Moment. Der Schweiß des anderen stört nicht, er gehört dazu. Der Lärm ist kein Makel, sondern Bestandteil der Inszenierung. Und der Dreck – nun ja, der wird verdrängt. Wichtig ist das Jetzt.

Festivals sind voller Widersprüche. Sie bieten Räume für Experimente, für neue Stimmen, für Grenzgänge zwischen Kunst, Musik und Politik. Gleichzeitig droht ihre Utopie unter Kommerzialisierung zu ersticken. Greenwashing, Sponsorenbühnen, Markenstände – wer nicht genau hinschaut, steht plötzlich in einem überteuerten Werbekonzept. Und doch gibt es sie, die ehrlichen Veranstaltungen. Die, bei denen Begegnung nicht simuliert, sondern erlebt wird.

Besonders sichtbar wird das in den kleineren Formaten. Das „Wilde Möhre“ irgendwo im Wald. Das „Moorland Festival“ auf selbstgebauter Bühne. Das Open-Air hinter der alten Seifenfabrik. Und nicht zuletzt: das mittelalterliche Phantasiespektakulum – eine Parallelwelt aus Ritterspielen, Folk-Klängen, Räucherwerk und Gewandung. Kein klassisches Festival, aber ein kulturelles Biotop, das jährlich Tausende in eine Zeitreise schickt. Auch hier geht es um Gemeinschaft, um Spiel, um Eskapismus mit Haltung.

Der Reiz des Festivalsommers liegt in seiner Vielfalt. Zwischen Rave und Rezitation, zwischen Technozelt und Tango am Flussufer entsteht eine kulturelle Collage. Festivals sind keine Flucht – sie sind Reflexion unter freiem Himmel. Orte des Fragens: Was bewegt uns? Was bewegt sich in der Welt? Und wie tanzt man in Zeiten der Dauerkrise?

Der Sommer erlaubt, was der Alltag oft verhindert: ein Ausbrechen, das nicht naiv ist, sondern notwendig. Und das Festival wird zum temporären Zuhause dieser anderen Wirklichkeit. Ein Notausgang mit Einlassbändchen.

Ja, wir verfluchen sie mitunter – die Massen, den Schlamm, die Dixikabinen mit Aufpreis. Doch wir kehren zurück. Immer wieder. Weil in der Musik, im Licht, im Lächeln des Unbekannten eine Wahrheit liegt: Wir sind nicht nur Zuschauer. Wir sind Teil des Geschehens.

Und vielleicht geht es genau darum: Nicht um die perfekten Acts, nicht um den Headliner – sondern um das gemeinsame Atmen in einer Zeit, die uns oft die Luft nimmt.

Wenn der letzte Ton verklungen ist, beginnt der Rückbau. Zäune werden abgebaut, Bühnen zerlegt, Müll eingesammelt. Und doch bleibt etwas – keine Sentimentalität, sondern ein kurzer Moment kollektiver Erfahrung, der sich nicht speichern lässt, aber in Erinnerung bleibt. Nicht als Echo, sondern als Tatsache: Wir waren da.

Die fünf größten und relevantesten Festivals in Deutschland, die im Sommer 2025 anstehen:– Kieler Woche (22.–30. Juni): Segelgroßereignis mit Konzerten, Kultur und Kulinarik an der Förde. – Fusion Festival (26.–30. Juni): Ein alternatives Gesamtkunstwerk bei Lärz – Techno, Theater und Transzendenz. – Hurricane Festival (21.–23. Juni): Rock, Pop, Indie – in Scheeßel steppt der Matsch. – Elbjazz Festival (6.–7. Juni): Jazz auf Werftgelände und Binnenschiff in Hamburg – zwischen Industrieästhetik und Hochkultur. – Mittelalterliches Fantasiespektakulum (verschiedene Termine): Deutschlands größte Veranstaltungsreihe für Fantasy- und Mittelalterfreunde – Märkte, Musik, Feuer, Met. – Rock am Ring (6.–8. Juni): Das traditionsreiche Festival am Nürburgring bringt Rockgrößen, Moshpits und Massenekstase zusammen. – Wacken Open Air (31. Juli–2. August): Das weltweit bekannte Metal-Festival in Schleswig-Holstein – laut, schwarz, legendär.: Deutschlands größte Veranstaltungsreihe für Fantasy- und Mittelalterfreunde – Märkte, Musik, Feuer, Met.

Offizielle Seiten der Festivals: – kieler-woche.de – fusion-festival.de – hurricane.de – elbJazz.de – spectaculum.de – rock-am-ring.com – wacken.com

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