Home GesellschaftGesellschaft & VerantwortungTabubruch – Wenn Tiere unbequem werden.

Tabubruch – Wenn Tiere unbequem werden.

von Thomas Wendtland
Drei Paviane sitzen eng beieinander im Sonnenlicht des Nürnberger Zoos, die Gesichter ernst und wachsam.

In Nürnberg hat ein Zoo ein stilles, aber unübersehbares Signal in die Gesellschaft gesendet. Zwölf Paviane wurden getötet, nicht weil sie krank waren, nicht weil sie litten, nicht weil ein Raubtier sie gejagt hätte, sondern weil sie im System des Menschen nicht mehr passten.

Es ist ein Satz, der die Schärfe der Wahrheit trägt: Diese Tiere starben, weil der Mensch sich für das Maß aller Dinge hält, und weil es bequemer war, sie sterben zu lassen, als die eigenen Versäumnisse zu korrigieren. Wer das akzeptiert, akzeptiert, dass Leben zur Verwaltungsgröße wird.

Die offizielle Begründung war sachlich, fast nüchtern vorgetragen. Das Gehege, hieß es, sei zu klein geworden, die Tiere zu zahlreich, die inneren Kämpfe hätten zugenommen. Es habe keine andere Lösung gegeben, kein Ausweichgehege, keine Aufnahmebereitschaft anderer Zoos, keine realisierbare Verhütung der Fortpflanzung. Die Tötung wurde als letzte Option bezeichnet, als „verantwortliche“ Maßnahme im Sinne des Managements einer Population, die man selbst erschaffen hatte. Doch hinter dieser Logik verbirgt sich eine Entscheidung von weit größerer Tragweite: Es wurde nicht nur ein Dutzend Tiere ausgelöscht, es wurde ein moralisches Fundament der Gesellschaft verschoben.

Denn was hier geschehen ist, ist nicht einfach ein Vorgang im Tierpark, keine Randnotiz der Lokalpresse, sondern ein Tabubruch. Wenn ein öffentlich finanzierter Zoo Tiere töten darf, die gesund und lebensfähig sind, allein weil sie nicht mehr in seine Pläne passen, entsteht ein Präzedenzfall. Das Signal lautet: Das Leben eines Tieres ist verhandelbar, wenn es stört. Und das öffnet Türen, die besser verschlossen blieben. Heute sind es Paviane in Nürnberg, morgen vielleicht andere Tiere in anderen Städten, und übermorgen, so die leise, aber logische Fortsetzung dieser Haltung, wird das ethische Korsett der Zoos insgesamt gelockert, bis nur noch die Effizienz übrig bleibt.

Die Gesellschaft tut sich schwer, auf diese stille Zäsur zu reagieren, weil sie in einer Ambivalenz lebt. Sie will Tiere sehen, sie will das Gefühl haben, nah am Leben zu sein, die Kinder sollen staunen, die Erwachsenen fotografieren, und die Institution Zoo soll eine Mischung aus Arche und Bildungsstätte sein. Doch hinter den Kulissen dieser Illusionen tobt eine Realität, die nun sichtbar geworden ist: Zoos züchten, verwalten und reduzieren Leben nach ökonomischen, organisatorischen und sicherheitstechnischen Kriterien. Die Paviane sind nicht an einer Natur gestorben, die grausam, aber konsequent ist, sie sind gestorben an einer Kultur, die freundlich aussehen will und sich dennoch das Recht nimmt, Leben zu beenden, wenn es unbequem wird.

Wer dieses Vorgehen rechtfertigt, verweist gern auf die Alternativlosigkeit. Doch Alternativlosigkeit ist selten ein Naturgesetz, meist ist sie das Resultat unterlassener Verantwortung. Jahrelang wurde gezüchtet, obwohl die Gehegegrenzen absehbar waren. Man wusste, dass Jungtiere erwachsen werden, dass Gruppenstrukturen sich verändern, dass Aggressionen zunehmen können. Wer diese Dynamik ignoriert und am Ende zum Gewehr greift, erklärt das eigene Managementversagen zum Schicksal der Tiere.

Journalistisch betrachtet liegt hier der Kern des Skandals: Es geht nicht allein um die Tötung, so sehr sie erschüttert, sondern um die institutionelle Botschaft, die mitschwingt. Ein Zoo ist kein anonymer Betrieb, sondern eine öffentliche Bühne für unseren Umgang mit Leben, und jede Entscheidung, die dort fällt, ist ein Kommentar zu unserer Moral. Wenn wir gesunde Tiere töten lassen, weil sie nicht mehr in unser Konzept passen, akzeptieren wir stillschweigend, dass Mitgeschöpfe zu Objekten degradiert werden dürfen. Und wer glaubt, dass sich diese Logik nicht auf andere Lebensbereiche überträgt, unterschätzt die symbolische Kraft solcher Handlungen.

Die Paviane selbst werden nichts mehr sagen, nichts mehr spüren, nichts mehr erinnern. Sie sind stumm geworden durch die Spritzen, die sie aus der Welt genommen haben. Aber sie hinterlassen eine Frage, die laut ist, weil sie uns gilt: Wer sind wir, dass wir das für richtig halten? Die Gesellschaft lebt von einem stillen Tabu, das wir kaum noch benennen: dass wir Leben nicht vernichten, wenn es uns bloß stört. Dieses Tabu ist älter als alle Tierschutzgesetze, älter als jede Debatte um Haltung und Moral, und es trägt unsere Selbstachtung. Wer es bricht, spürt vielleicht zuerst Erleichterung, weil ein Problem gelöst scheint. Doch er verliert etwas, das sich nicht ersetzen lässt: den Konsens, dass Leben um seiner selbst willen einen Wert besitzt.

Leben zu schützen ist das wertvollste Gut, das wir einsetzen können. Denn wir sind die denkende Spezies, die Entscheidungen trifft. Wir hätten neue Gehege bauen können, Alternativen suchen, die Kolonie betreut in die Natur entlassen oder einen anderen Ort finden können. Der Mensch hat Millionen Möglichkeiten, bevor er tötet – und doch hat er sich für die bequemste entschieden.

Man kann an dieser Stelle argumentieren, dass das Leben der Tiere hierzulande ohnehin von menschlichen Entscheidungen abhängt, dass Massentierhaltung, Jagd und Versuchslabore längst ein düsteres Kapitel der Praxis schreiben. Aber gerade deshalb ist jeder Ort, an dem Tiere leben, ohne dass sie dem Menschen direkt als Nahrung dienen, ein Prüfstein unserer Zivilisation. Zoos beanspruchen, Bildung und Bewusstsein zu fördern, sie werben mit Artenschutz, mit Empathie, mit Verantwortung. Wenn diese Orte selbst beginnen, Leben wie eine verhandelbare Größe zu behandeln, fällt die Fassade. Dann bleibt nur der nüchterne, aber bittere Befund: Die Tiere sind Staffage, solange sie ins Konzept passen, und Dispositionsmasse, wenn sie es nicht mehr tun.

Die Gesellschaft darf diesen Vorgang nicht zur Routine werden lassen, weil er mehr ist als ein lokales Ereignis. Es ist eine moralische Zäsur, die sichtbar macht, wie sehr wir Leben an Bedingungen knüpfen, die wir selbst setzen. Wenn es keine breite, kritische Debatte gibt, wird der Nürnberger Fall zu einem Lehrstück darüber, wie still und unbemerkt Tabus verschwinden können. Die Empörung der Tierschutzorganisationen ist deshalb nicht bloß ein Reflex, sondern eine Erinnerung an die Fundamente unseres Umgangs mit anderen Lebewesen.

Ein Tabu ist nicht einfach eine Regel. Es ist eine unsichtbare Grenze, die eine Gesellschaft schützt, bevor sie sich selbst verliert. Wenn wir anfangen, gesunde Tiere zu töten, weil sie nicht mehr in unsere Ordnung passen, wenn wir diese Entscheidung als „letzte Option“ verbuchen und am nächsten Tag wieder zu einem Alltag übergehen, der die Tiere vor allem als Schauobjekte betrachtet, dann verschieben wir diese Grenze. Und jedes verschobene Tabu macht das nächste leichter.

Die Paviane von Nürnberg sind tot. Was bleibt, ist eine Leerstelle in unserer Moral. Sie fragt nicht nur nach dem, was war, sondern nach dem, was wir künftig akzeptieren wollen. Wenn wir diesen Präzedenzfall hinnehmen, ohne Konsequenzen zu ziehen, dann beantworten wir die Frage mit Schweigen. Und Schweigen ist in diesem Fall Zustimmung.

Die Tötung der Paviane im Nürnberger Zoo ist mehr als ein lokales Ereignis, sie ist ein Spiegel, den wir uns selbst vorhalten müssen. Sie zeigt uns, wie wir als Gesellschaft mit Tieren umgehen, und sie entlarvt die Bequemlichkeit, mit der wir Leben an Bedingungen knüpfen, die wir selbst setzen. Die Öffentlichkeit akzeptiert diese Tötung nicht, das zeigen die Proteste, die Empörung, die stillen Schamgefühle vieler Besucher. Und doch bleibt ein bitterer Befund: Hier wurde Leben genommen, nicht aus Hunger, nicht aus Not, sondern aus einer Verwaltung heraus, die sich über das Leben gestellt hat. Wer das hinnimmt, verschiebt die Grenzen des moralisch Vorstellbaren – und nimmt in Kauf, dass ein stiller Präzedenzfall entsteht, an dem wir uns einmal messen lassen müssen.

ⓘ Die Tötung gesunder Paviane im Nürnberger Zoo markiert einen Tabubruch. Sie zeigt, dass Leben zur Dispositionsmasse wird, wenn menschliche Planung versagt.
Journalismus darf zu ethischen Grenzüberschreitungen nicht schweigen. Wenn Tiere aus reiner Bequemlichkeit getötet werden, ist es Pflicht der Medien, klar Stellung zu beziehen. Moral und Ethik sind nicht optional, sie sind das Fundament glaubwürdiger Berichterstattung.

Quellen-Nachweis
Süddeutsche Zeitung: „Nürnberger Zoo tötet Paviane“
BR24: „Tierschutzbund kritisiert Pavian-Tötungen“
NABU: „Ethische Verantwortung von Zoos“

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