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Warum wir träumen

von Carsten Bornhöft
Mädchen in blauem Kleid steht auf einer Wiese und blickt in eine Traumlandschaft mit schwebendem Wal, auf dessen Rücken ein Schloss thront, umgeben von Wolken.

Der Schlaf ist kein Shutdown, sondern eher ein leiser Wartungsmodus, in dem die Festplatte weiter rattert. Während wir außen ruhig daliegen, beginnt innen das große Umräumen: Erinnerungen werden verstaut, Müll wird entsorgt, offene Fragen wandern in Zwischenlager. Und mitten in diesem nächtlichen Chaos schiebt sich ein Film dazwischen: der Traum.

Zwischen Innenwelt und Außenwirkung: Hier geht es um das, was Menschen bewegt, unterdrücken oder im Schlaf verarbeiten – fundiert, einfühlsam, kritisch.

Kein Wunschkonzert, keine billige Psycho-Soap, sondern ein oft abgedrehter, manchmal furchteinflößender, aber zutiefst menschlicher Streifen, der selten den Oscar gewinnt, aber immer etwas zu sagen hat.

Dass wir träumen, ist sicher. Warum wir träumen, ist unklar. Die Wissenschaft hat Theorien, die Philosophie hat Fragen, die Esoterik hat Antworten, die meist schon an der Eingangstür klingeln und unangenehm riechen. Die moderne Neurologie spricht von REM-Phasen, von neuronaler Reorganisation, von emotionaler Entlastung. Es gibt Hinweise, dass unser Gehirn im Traum Erfahrungen sortiert, Ängste durchspielt, Probleme simuliert. Aber keiner kann mit letzter Gewissheit sagen: Das ist der Zweck. Vielleicht ist das der eigentliche Reiz. Dass das Träumen nicht auf Knopfdruck funktioniert. Dass man es nicht monetarisieren, nicht planen, nicht in die Cloud hochladen kann. Träume sind das letzte Wildnisgebiet unserer Seele.

Die Seele auf Durchzug

Kinder träumen besonders häufig – und das ist nicht nur harmlos, sondern enorm wichtig. In der frühen Kindheit sind Träume Teil der neuronalen Entwicklungsarbeit. Die intensive Aktivität im REM-Schlaf fördert die Bildung neuer Synapsen, stärkt die emotionale Verarbeitung und hilft, die Welt zu sortieren, die tagsüber so unübersichtlich wirkt. Dass Kinder manchmal Albträume haben, ist dabei kein Zeichen von Störung, sondern ein Ausdruck von innerer Auseinandersetzung mit einer oft zu komplexen Realität. Wenn Kinder von Monstern träumen, ist das kein schlechtes Zeichen – im Gegenteil: Das Gehirn trainiert, Gefahren zu erkennen und Ängste symbolisch zu besiegen.

Es ist kein Zufall, dass Menschen in Krisen intensiver träumen. Entzug, Stress, Krankheit, Neuanfang – all das geht unter die Haut. Und das Unterbewusstsein antwortet. Mit Bildern, die oft keinen Sinn ergeben, aber auch keine wollen. Da schläft man in fremden Häusern, springt aus Kinderzimmerfenstern oder spricht mit längst Verstorbenen, als hätte man sie gestern erst verabschiedet. Die Psychoanalyse – allen voran Freud und Jung – hat daraus ganze Deutungskataloge gestrickt, voll von Symbolen, Archetypen und angedeuteter Libido. Doch Hand aufs Herz: Wer sich heute in ein Traumbuch vertieft, liest selten etwas, das dem eigenen Erleben wirklich gerecht wird. Meistens ist es der Versuch, mit dem Lineal einen Wasserfall zu vermessen.

Traumdeutung ist keine Wissenschaft im engeren Sinne. Sie ist eher eine Einladung zur Selbstbeobachtung. Man fragt sich beim Aufwachen nicht: Was bedeutet das Symbol?, sondern eher: Warum hat mein Kopf das jetzt gebraucht? Und das ist spannender als jeder Traum selbst. Denn die Antwort liegt selten in fremden Theorien, sondern im eigenen Leben. In dem, was man verschweigt, was man verdrängt, was man nicht aussprechen will. Der Traum holt das hervor, was tagsüber keinen Raum findet. Nicht als Anklage, sondern als Erinnerung: Da ist noch etwas.

Keine Esoterik, sondern Verarbeitung

Nehmen wir ein Beispiel: Wer nach Jahren des regelmäßigen Bierkonsums plötzlich aufhört, erlebt es oft selbst. Nach wenigen alkoholfreien Tagen wird der Schlaf unruhiger, die Träume intensiver, die Bilder wilder. Der Körper entgiftet, das Hirn räumt auf. Der REM-Schlaf kehrt in voller Stärke zurück, Träume tauchen wieder auf wie alte Bekannte, die sich lange nicht gemeldet haben.

Oder: Jemand hat einen nahen Angehörigen verloren. Der Tod kam plötzlich oder schleichend, vielleicht war es ein Unfall oder eine schwere Krankheit. In den Nächten danach beginnt ein innerer Dialog, der sich nicht artikulieren lässt – außer im Traum. Da tauchen die Verstorbenen auf, da entstehen Bilder im Kopf aus alten Zeiten – manchmal klar, manchmal abgewandelt, gelegentlich bevölkert von Personen, die man nie kennengelernt hat, die sich aber so verhalten, wie der Verstorbene es vielleicht getan hätte. Sie reden, schweigen, gehen weg oder bleiben stumm. Die Psyche führt ein Protokoll der Trauer, ohne dass der Verstand mitreden darf.

Oder: Ein Mensch überlebt einen Unfall, körperlich fast unversehrt, aber innerlich aufgeschreckt. Wochen später beginnt er zu träumen – nicht vom Unfall selbst, sondern von seltsamen Szenen, irrealen Bildern, dunklen Korridoren. Kein Rückblick, sondern ein Umweg, der zum Kern führt. Das Erlebte will verarbeitet werden, aber eben nicht frontal, sondern in Schleifen.

Und sie bringen manchmal unbequeme Geschichten mit. Aber das ist kein Zeichen von „Störung“. Im Gegenteil. Es ist ein Beleg dafür, dass die Psyche wieder funktioniert.

Viele Menschen ignorieren ihre Träume. Vielleicht weil sie zu albern erscheinen. Vielleicht weil sie Angst machen. Vielleicht weil man glaubt, sie seien bedeutungslos. Dabei ist das Träumen ein intimer Akt der Selbstreinigung. Ohne dass man es merkt, ohne dass man eingreift. Das Gehirn durchlebt Szenen, die es vielleicht gar nicht erleben will – aber erleben muss. Damit das Tagesbewusstsein nicht implodiert. Wer das einmal verstanden hat, wird Träume nicht mehr nachschlagen, sondern auf sich wirken lassen.

Schlaf ist nicht bloß Ruhe. Er ist ein Grenzgebiet, in dem man sich selbst begegnet, wenn niemand mehr zusieht. Und das ist vielleicht das Ehrlichste, was uns im Alltag bleibt.

Traumdeutung ist kein geschützter Begriff. Während die Neurowissenschaft REM-Schlaf und kognitive Prozesse erforscht, tummeln sich auf dem Markt unzählige Deutungsratgeber, Online-Portale und selbsternannte Traumexperten. Viele bieten symbolhafte Übersetzungen an („Ein Flugzeug steht für das Streben nach Freiheit“), die bestenfalls unterhaltsam, oft aber schlichtweg unseriös sind.

Besonders kritisch sind Angebote, die mit Heilsversprechen oder angeblichen „Traumanalysen“ arbeiten, ohne jede wissenschaftliche Grundlage. Psychologische Beratung darf in Deutschland nur von anerkannten Fachleuten (Psycholog:innen, Therapeut:innen mit Approbation) angeboten werden. Wer also mit Träumen arbeitet, sollte das mit Augenmaß und kritischem Verstand tun – und nicht alles glauben, was in Traumlexika oder esoterischen Ratgebern steht.

Quellen-Nachweis
– Bedeutung des REM-Schlafs für Kinder und Synapsenbildung: revor.be – REM-Schlaf und Träume
– Informationen zum REM-Schlaf und Traumverarbeitung: quarks.de – Träume: Was sie über uns verraten
– Wissenschaftliche Kritik an Traumsymbolik: carpediem.life – Traumdeutung: Was Träume wirklich sagen
– Einordnung Freuds Traumtheorie: Wikipedia – Die Traumdeutung

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