Es gibt Tage, an denen der Kalender nicht nur ein Datum ausweist, sondern ein Flüstern in die Geschichte. Der erste Mai ist so ein Tag. Kein leiser Feiertag, kein unbeschriebenes Blatt im Jahreslauf – vielmehr ein Tag mit Fußspuren, Megaphonen, roten Fahnen und heute zunehmend auch mit veganen Grillwürstchen.
Der Mensch, der in ihm wurzelt, ist ein anderer geworden. Doch die Fragen, die dieser Tag einst aufwarf, haben nichts von ihrer Schärfe verloren. Es ist, als ob er jährlich neu um seine Bedeutung ringt – zwischen Revolte und Ritual, zwischen Aufbruch und Ausverkauf. Und dabei erzählt er mehr über uns, als wir vielleicht zugeben wollen.
Die Herkunft – Aufstand, Hoffnung, Asphalt
Der erste Mai beginnt nicht in der Wohlfühlsoziologie moderner Feiertagsplanung. Er beginnt in der Unbequemlichkeit, in den Straßen Chicagos des Jahres 1886. Damals erhoben sich Arbeiter gegen eine 16-Stunden-Schinderei, die weniger Leben als Funktionierung war. Der Achtstundentag – heute für viele ein Mindestmaß an Belastbarkeit – war eine radikale Forderung, eine Kampfansage an den enthemmten Kapitalismus der Industrialisierung.
Was dann folgte, war nicht das Einverständnis, sondern das Echo der Gewalt. Die Haymarket-Riots mit ihren Explosionen, Verhaftungen und Hinrichtungen wurden zu einem düsteren Symbol der Arbeiterbewegung, deren Stimme man lieber zum Schweigen bringen wollte. Dass daraus ein internationaler Feiertag wurde, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein diplomatisch codierter Kompromiss zwischen Gedenken und Genehmigung. Ein offizieller Feiertag, ja – aber mit misstrauischem Seitenblick von oben. So war es auch in Deutschland, wo die Nationalsozialisten 1933 den 1. Mai als „Tag der nationalen Arbeit“ vereinnahmten, bevor sie am Tag darauf die Gewerkschaften zerschlugen. Ironie? Nein, brutale Logik.
Heute spazieren wir durch die Geschichte dieses Tages mit einem Pappkaffee in der Hand und fragen uns, was wir da eigentlich feiern. Die Arbeitswelt hat sich gewandelt, der Achtstundentag ist in Teilen zur Vier-Tage-Woche mutiert, während andere sich durch zehn Stunden ohne Tarifbindung schleppen. Und doch flackert in diesem Tag etwas auf: eine Erinnerung an das, was Menschen sich nehmen mussten, weil es ihnen niemand geben wollte.
Der Wandel – Vom Klassenkampf zur Freizeitfrage
Der erste Mai hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert – wie ein Lied, das von zu vielen auf zu vielen Bühnen gesungen wurde und sich dabei selbst verhallte. Er war einmal die Ouvertüre zum Klassenkampf, getragen von der Utopie, dass Arbeit nicht Knechtschaft, sondern Teilhabe bedeutet. Heute hört man an diesem Tag öfter von Brückentagen, Grillwetter und „endlich mal ausschlafen“. Der Diskurs ist durchlässig geworden, die großen Blöcke – Kapital und Arbeit – wirken wie verschwommene Silhouetten aus einer anderen Zeit.
Doch vielleicht liegt gerade darin seine neue Wahrheit: Der erste Mai ist kein klarer Feiertag mehr, sondern ein Kaleidoskop. Die einen sehen in ihm das historische Gedächtnis einer Bewegung, die soziale Mindeststandards durchgesetzt hat. Die anderen erleben ihn als willkommene Unterbrechung des Wochenrhythmus, als Anlass für ein Selfie mit Bierflasche und Sonnenbrille auf dem Tempelhofer Feld. Dazwischen: die stillen Fragen, die nicht mehr laut, aber dafür tief gestellt werden.
Was ist aus der Solidarität geworden? Wie wirkt sich die Prekarisierung auf die gewerkschaftliche Organisation aus? Wollen wir überhaupt noch kämpfen – oder lieber gut performen und im Flow bleiben? Die Sprache der Arbeit hat sich verändert. „Teamfähig“ ersetzt „streikfähig“, und die neue Arbeitsmoral heißt Flexibilität statt Forderung. Der 1. Mai bleibt – aber der Kontext, in dem er gelesen wird, ist ein anderer.
Der 1. Mai 2025 – Zwischen Seifenblasen und Systemfragen
Im Jahr 2025 ist der 1. Mai ein Spiegel unserer Widersprüche. Er ist Selfcare-Feiertag und Streikaufruf, Instagram-Hype und Analysepunkt für den gesellschaftlichen Puls. Manch einer postet ein Bild vom veganen Picknick mit der Überschrift „Workers of the World, relax!“, während andere auf Demos „Umverteilen!“ skandieren – mit neuen Begriffen, aber alter Energie.
Die Generation Z trägt Sneakers, die auf Ausbeutung in südasiatischen Produktionsstätten zurückgehen, und ruft zugleich nach ethischem Konsum. Man kann das heuchlerisch nennen oder realistisch. Denn wer heute arbeiten geht, jongliert mit Inflation, digitalem Burnout und der diffusen Angst, dass der eigene Job bald von einer KI übernommen wird. Da bekommt der 1. Mai plötzlich eine neue Bedeutung: nicht mehr nur historischer Denkzettel, sondern vielleicht doch ein Tag der kollektiven Standortbestimmung.
Zwischen den Ständen mit Bio-Käse und Polit-Buttons, zwischen jungen Gewerkschaftlern und alten Kämpfern, da schimmert etwas durch: eine Ahnung von dem, was Arbeit im besten Fall sein könnte – ein freier Tausch von Zeit gegen Sinn, nicht gegen Schmerz. Es ist diese Ahnung, die den 1. Mai überleben lässt, auch wenn viele nicht mehr wissen, was sie da eigentlich feiern.
Und so stehen wir heute da, zwischen Systemkritik und Systemabstinenz, und hören vielleicht wieder etwas vom alten Geist dieses Tages. Nicht als Aufruf zum Umsturz – das wäre zu plump –, sondern als Einladung zur ehrlichen Frage: Für wen arbeiten wir eigentlich? Und wofür?
Vielleicht wird der 1. Mai in Zukunft gar nicht mehr als Feiertag begangen, sondern als Gedenktag für die verschwundene Idee der Würde in der Arbeit. Vielleicht erinnern sich künftige Generationen an diesen Tag, wie wir heute an VHS-Kassetten denken: nostalgisch, aber ohne Anschluss. Und vielleicht wird dann einer wie ich am Rand stehen, mit einem Schild, auf dem nicht „Hoch die internationale Solidarität“ steht, sondern schlicht : „Ich hatte mal einen Job, der sich gut anfühlte. Aber gute Arbeit war wohl nie Teil des Plans – nur das Funktionieren.“