White Tiger – 764

von Thomas Wendtland
Dunkel gekleidete, vermummte Person mit Laptop – Symbolbild für digitale Täter, Anonymität und Cyberkriminalität im Netz

Wenn man an einem Freitagnachmittag nichts Böses ahnend eine zugeschaltete Pressekonferenz der Polizei Hamburg verfolgt – auch das ist journalistische Kleinarbeit –, und plötzlich von bisher nie öffentlich benannten Entsetzlichkeiten erfährt, dann sieht man zunächst nur hin. Doch nach einer Weile, wenn sich die Fassung langsam zurückmeldet, setzt man sich unweigerlich an die Tastatur, um darüber zu berichten, was hier gerade sichtbar gemacht wurde: eine digitale Grauzone, die zur systematischen Folterkammer für Kinder geworden ist.

Es gibt Momente, in denen selbst ein erfahrener Beobachter stockt. Nicht aus Sensationsgier, sondern weil die Fakten eine Grenze überschreiten, die sich kaum in Worte fassen lässt. Der Fall „White Tiger“ ist ein solcher Moment. Kein Symbolbild, keine Überschrift, keine Zahl kann das wiedergeben, was in diesem Netzwerk geschehen ist – und was es über die digitale Sicherheitslage in diesem Land aussagt.

Die Täterstruktur: digital, planvoll, radikal

Ein deutsch-iranischer Mann, heute 20 Jahre alt, sitzt in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, als zentrale Figur des Netzwerks „764“ aktiv gewesen zu sein – einer Gruppierung, die gezielt Minderjährige in suizidalen Online-Foren ansprach, manipulierte und unter Druck setzte. Der Tarnname „White Tiger“ steht für eine der bislang perfidesten digitalen Täterrollen: Die psychische Zerstörung von Kindern als systematischer Prozess.

Die Täter arbeiteten über Wochen und Monate hinweg, um Vertrauen aufzubauen. Sie analysierten die Schwächen ihrer Opfer, nutzten depressive Zustände gezielt aus und stellten eine vermeintliche Verbindung her – die dann Schritt für Schritt zur Kontrolle wurde. Es ging nicht um einfache Anstiftung. Es ging um Unterwerfung, um psychische Dominanz. In vielen Fällen gipfelte dies in der Aufforderung zu Selbstverstümmelung, sexuellen Handlungen, oder sogar zur Tötung von Haustieren – alles dokumentiert und innerhalb der Gruppe geteilt.

Der Zugriff erfolgte im Juni 2025 in Hamburg. Internationale Hinweise – vor allem vom FBI – hatten das Landeskriminalamt auf die Spur gebracht. Die Sonderkommission „Mantacore“ sicherte in monatelanger Arbeit umfangreiche digitale Beweise: Bilder, Chatverläufe, Videos. Das Material war so belastend, dass Ermittler zeitweise psychologisch betreut werden mussten und selbst die Polizei bestätigte: „Das sind Abgründe, die nur schwer auszuhalten sind“, wie Polizeipräsident Schnabel auf der Pressekonferenz erklärte. Die Taten zeigten ein unvorstellbares Maß an Verrohung und Unmenschlichkeit. Die Beamtinnen und Beamten hätten unzählige Videos mit Folterungen von Kleinkindern und getöteten Tieren sichten müssen, so Schnabel weiter. „Wir hoffen, dass sich die Festnahme in der Szene herumspricht und es dann eine interne Abschreckung geben wird“, ergänzte Generalstaatsanwalt Fröhlich. Es handelt sich um Fälle, in denen Kinder dazu gebracht wurden, sich selbst zu verletzen, ihre Tiere zu töten oder sich vor laufender Kamera zu erniedrigen – stets unter dem Vorwand von Gruppenzugehörigkeit oder Loyalitätsbeweisen.

Ein Kind erwürgte seinen Hund. Ein anderes verstümmelte sich im Intimbereich. In mehreren Fällen wurden Kinder zur Selbstverletzung vor laufender Kamera aufgefordert. Der Begriff „White Tiger“ diente innerhalb der Szene als Identifikationsmerkmal. Die Täter arbeiteten arbeitsteilig, mit Pseudonymen, über verschlüsselte Kanäle. Die Ideologie dahinter ist keine politische, keine religiöse – sondern die systematische Auslöschung von Selbstbestimmung.

Während in den USA ein Mitbegründer des Netzwerks zu 80 Jahren Haft verurteilt wurde, steht in Deutschland ein langer Gutachtenprozess bevor. Es ist absehbar, dass erneut über Schuldfähigkeit, Sicherungsverwahrung und Therapiebereitschaft diskutiert werden wird. Ein Szenario, das viele Ermittler frustriert – denn die Schwere der Taten steht für sie außer Frage. Die juristische Bewertung wird sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die digitale Ausführung solcher Gewaltformen dem physischen Missbrauch gleichzusetzen ist. In der Pressekonferenz der Polizei Hamburg wurde zudem deutlich gemacht, dass hier juristisches Neuland betreten wird. Es seien Tathandlungen dokumentiert worden, die in dieser Form bislang keine eindeutige gesetzliche Grundlage im deutschen Strafrecht haben. Die Einordnung dieser Taten wird eine Herausforderung für Gerichte und Gesetzgeber gleichermaßen darstellen. Auf einem großzügigen Anwesen mit zwei Villen, schneeweiß-elegant und modern, nahmen sie einen Mann fest, der sich im Internet „White Tiger“ nannte: Shahriar J., 20 Jahre alt, Deutsch-Iraner. Er soll ganz oben im linken der beiden Häuser gewohnt haben, in den Etagen darunter seine Eltern, sein älterer Bruder und dessen Frau. Sein Vater soll es durch den Handel mit Medizintechnik zu beträchtlichem Wohlstand gebracht haben. Mitten unter uns, mitten in einem gehobenen Wohnumfeld, geschahen Dinge, von denen offenbar nicht einmal die Familie etwas mitbekam – oder nicht mitbekommen wollte. Der Täter ist volljährig, doch es bleibt die unbequeme Frage, wie ein solches Verhalten über Jahre hinweg unbemerkt bleiben konnte. Wenn Wohlstand alle Aufmerksamkeit absorbiert und Erziehung zur Nebensache wird, entstehen blinde Zonen – auch mitten in der Gesellschaft.

Politisches Versagen und Plattformverantwortung

Was der Fall offenbart, ist mehr als ein Verbrechen. Es ist das systematische Scheitern eines Staates, seine Kinder in digitalen Räumen zu schützen. Während Netzwerke wie „764“ gezielt nach verletzlichen Jugendlichen suchen, fehlen nach wie vor niedrigschwellige Hilfsangebote, verpflichtende Aufklärung und technische Schutzmaßnahmen auf Plattformebene. Viele dieser Taten hätten verhindert werden können, wenn Anbieter schneller reagiert, Behörden enger zusammengearbeitet und politische Instanzen härtere Regelungen geschaffen hätten.

Die Foren, auf denen die Täter operierten, bestehen teilweise weiter – und es handelt sich dabei nicht um verborgene Bereiche des Darknets, sondern um öffentlich zugängliche Plattformen wie Facebook, Discord oder privat eingerichtete Foren, die ohne Zugangsbeschränkung betreten werden können. Seit Beginn der Ermittlungen im September 2023 konnten die Täter ihre Aktivitäten nahezu ungehindert fortsetzen. Die Foren wurden nicht abgeschaltet, die Betreiber blieben untätig, und eine unterbesetzte, technisch nicht ausreichend ausgestattete Polizei muss sich durch Videomaterial kämpfen – oft minutengenau dokumentieren, bevor sie überhaupt handlungsfähig wird. In Deutschland reicht ein Verdacht nicht aus, um präventiv zu handeln – ein rechtsstaatlich verständlicher Ansatz, der jedoch in der heutigen digitalen Realität zur Untätigkeit führen kann. Es braucht eine Debatte darüber, ob Netzwerke wie Discord, Telegram, Instagram und insbesondere das Imperium von Mark Zuckerberg – namentlich Facebook und Meta – im Ernstfall temporär stillgelegt werden können. Diese Plattformen stehen nicht am Rande, sondern im Zentrum dieser digitalen Verrohung. Wir sehen, wie sich die Marke Meta zunehmend der Kontrolle entzieht und staatliche Ordnung unterläuft, ohne dass daraus bisher konkrete Konsequenzen gezogen wurden. Die Betreiber tragen hier eine klare Mitverantwortung. Wer sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzt, kann nicht länger wegsehen. Die Untätigkeit dieser Konzerne ermöglicht weiterhin den Missbrauch – öffentlich, unbehelligt, algorithmisch gestützt. Es ist an der Zeit, dass Politik und Strafverfolgung nicht nur reden, sondern handeln. Plattformen müssen verpflichtet werden, Verantwortung zu übernehmen – oder ihnen ist der Zugang zeitweise zu entziehen. Es ist Zeit für konkrete Maßnahmen statt politischer Phrasen. Die Polizei hat in diesem Fall mit internationaler Hilfe hervorragende Arbeit geleistet. Doch sie ist nur der Anfang. Was fehlt, ist ein politisches und gesellschaftliches Echo, das diesen Fall nicht als Ausnahme behandelt, sondern als Warnsignal.

Wir sprechen hier nicht von einzelnen überforderten Tätern. Wir sprechen von einer Struktur. Einer Organisation, die sich der digitalen Anonymität bedient und ein Systemversagen ausnutzt. Es geht um Kinder, die ohne Hilfe waren. Die glaubten, in einem Chat Hilfe zu finden – und stattdessen ihre Würde verloren.

Wer heute noch davon spricht, das Internet sei ein sicherer Raum für Kinder, ignoriert diese Realität. Wer Gesetze verschleppt, Plattformregulierung blockiert oder Aufklärung als Nebensache behandelt, trägt eine Mitverantwortung. „White Tiger“ ist kein Einzelfall. Es ist ein Beispiel dafür, was passiert, wenn Schutzversprechen nicht eingelöst werden.

Die Frage, die bleibt, ist unbequem: Wann handeln wir endlich? Und es bleibt die Frage, wie viele Täter weiterhin unbehelligt ihr Unwesen treiben. Es handelt sich hier nicht um ein isoliertes Netzwerk einiger weniger, sondern um ein ganzes Geflecht von Gleichgesinnten, die sich gegenseitig in ihren Perversionen bestärken und systematisch Kinder zerstören. Wann endlich bekommt der deutsche Staat die gesetzlichen Möglichkeiten, die es braucht, um diese Netzwerke präventiv zu stoppen? Wann endlich wird die Sicherheit von Kindern höher gewichtet als der Datenschutz mutmaßlicher Täter?

ⓘ Der Täter nutzte Plattformen wie Discord, Facebook und Telegram, um Kinder zu manipulieren und psychisch zu brechen. Ermittlungen liefen über Monate, die Polizei sichtete tausende Minuten belastenden Materials. Es handelt sich um eine digital organisierte Struktur, nicht um Einzelfälle. Eltern wird dringend geraten, das digitale Verhalten ihrer Kinder aktiv zu begleiten. Wer auffällige Veränderungen bemerkt – Rückzug, Stimmungsschwankungen, geheimes Verhalten am Handy oder PC – sollte nicht zögern, das Gespräch zu suchen oder Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es gibt immer Anlaufstellen, auch anonym.

Quellen-Nachweis – Pressekonferenz der Polizei Hamburg, 21. Juni 2025
– stern.de: „White Tiger – Sadist aus dem Kinderzimmer“, Stand: Juni 2025
– Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, Pressemeldung 2025-06-20
– Tagesschau.de, Hintergrundbericht zu Tätergruppe „764“
– FBI-Report (Kooperationshinweis via LKA Hamburg)

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