Drogen, Alkohol, Kontrollverlust: Was hinter dem exzessiven Rausch auf Techno-Partys steckt
Beim Nachfolger der Loveparade, dem „Rave @the Planet“, kam es zu massiven medizinischen Notfällen. 13 Menschen schweben laut Feuerwehr in akuter Lebensgefahr. 27 weitere wurden mit schweren Vergiftungen in Krankenhäuser eingeliefert. Die Einsatzkräfte sprechen von einem Ausnahmezustand. Die Ursache: Drogen. Alkohol. Ignoranz. Und ein gesellschaftliches System, das systematisch wegsieht – solange niemand tot umfällt.
Dabei hätte man schon damals bei der Loveparade begreifen können, was passiert, wenn eine ganze Generation sich im Takt von Bass und Betäubung selbst aus dem Leben schießt. Jahr für Jahr wurden dort Massenvergiftungen zur stillschweigenden Begleiterscheinung – als wäre Wegtreten Teil des Erlebnisses. Doch statt Verantwortung gab es PR. Statt Konsequenzen ein kollektives Vergessen. Und jetzt? Wieder das gleiche Muster: Abstürze im Kollektiv, Wegducken mit System. Die Bilder gleichen sich: halb bewusstlose Körper, verdrehte Augen, Atemnot, Kreislaufzusammenbrüche. Und die Frage: Warum?
Die nüchterne Antwort lautet: Weil es geht. Weil der gesellschaftliche, familiäre und rechtliche Rahmen zerbröckelt ist. Weil „Party machen“ längst nicht mehr bedeutet, mit Freunden einen schönen Abend zu haben – sondern sich selbst zu betäuben, zu entgrenzen, auszuklinken.
Soziologie der Ekstase
Der Soziologe Émile Durkheim sprach einst von „kollektiver Ausnahmestimmung“ – einem Zustand, in dem das „Ich“ im „Wir“ verschwindet. Techno-Partys bieten genau das: ein temporäres Abschalten des Individuums, eine Flucht aus der funktionalen Realität. In der Anonymität des Stroboskops zählt nicht, wer du bist – sondern wie sehr du dich auflöst. In einer Welt, die ständig Leistung fordert, ist das kollektive Verschwinden im Beat zur Gegenbewegung geworden.
Doch wo einst Tanz und Trance Ausdruck von Spiritualität waren, ist heute häufig nur noch der schnelle chemische Kick übrig. Alkohol, Ketamin, MDMA, Lachgas, Amphetamine – eine Mixtur, die nicht euphorisiert, sondern lähmt. Die Betroffenen wirken nicht beseelt, sondern fremdgesteuert. Wie von Sinnen – im wörtlichen wie im juristischen Sinne.
Dann die Lachgas Debatte. Der neueste Buhmann. Medienwirksam als Teufelszeug gebrandmarkt, mit Verbot belegt – fertig ist die politische Schaufensterlösung. Als würde ein Gesetz junge Menschen plötzlich zur Vernunft bringen. Als würde ein Paragraf reichen, um Orientierungslosigkeit zu ersetzen.
Doch die Wahrheit ist: Ein Verbot ersetzt kein Gespräch. Kein Vorbild. Kein echtes Interesse am Zustand der Jugend. Wer Lachgas verbietet, aber Jugendliche weiter alleine lässt – mit ihren Fragen, Ängsten und Abgründen – bekämpft Symptome, aber nie die Ursache.
Vielleicht wäre es an der Zeit, nicht reflexhaft zu verbieten, sondern hinzuhören. Nicht nur mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit Haltung. Und mit der Bereitschaft, wieder Verantwortung zu übernehmen – als Eltern, als Schulen, als Gesellschaft.
Eltern, die längst abgedankt haben
Wo sind eigentlich die Eltern dieser Jugendlichen? Die Antwort ist so einfach wie erschütternd: Viele haben kapituliert. Nicht aus Sorge oder Einsicht, sondern weil sie ihre Gören nicht mehr im Griff haben – oder nie hatten. Das ist keine Erziehungsphilosophie, kein „Loslassen“ oder „Vertrauen schenken“. Es ist Kontrollverlust.
Statt Grenzen zu setzen, wird durchgewunken. Statt Konflikte auszutragen, wird geschwiegen. Manche Eltern sind schlicht überfordert, andere zu bequem, viele schlichtweg abwesend – emotional, physisch oder beides. Wer sein Kind nicht mehr erreicht, aber trotzdem auf das Schicksal hofft, macht sich nicht nur mitschuldig, sondern hat die Verantwortung längst abgegeben.
Kinder wachsen heute oft in einem Raum ohne Regeln auf, ohne Korrektiv, ohne jemanden, der auf sie achtet – außer TikTok und der nächste Dealer hinterm Club. Wer da ins Koma tanzt, war vorher schon allein.
Viele Jugendliche erleben ihre Familien nicht als Halt, sondern als Unsicherheit. Geborgenheit wird ersetzt durch Freiheit, Erziehung durch Laissez-faire. Die Grenzen verschwimmen. Wer sich als Kind nicht gehalten fühlt, sucht später den Halt im Rausch.
Der juristische Totalausfall
Dabei gäbe es Regeln. Gesetze und Paragraphen. Besitz und Konsum harter Drogen sind in Deutschland strafbar, ebenso das Verabreichen von Substanzen an Dritte. Doch auf vielen Partys scheint das nicht zu gelten. Die Polizei fährt vorbei, schaut nicht hin. Clubs feiern sich als „safe spaces“, während in den Toiletten mit Pillen gedealt und Nasen gezogen werden. Man kann sich heute seelenruhig in Sichtweite einer Polizeieinheit wegschießen. Niemand greift ein. Niemand sagt etwas. Der Alkohol fließt, die Pillen wechseln diskret die Hand, das Lachgas zischt. Und die Beamten? Bleiben Zuschauer – solange keiner stirbt. Erst wenn einer zitternd am Boden liegt, nicht mehr ansprechbar, kollabiert, wird reagiert. Dann kommen die Retter, dann beginnt der bürokratische Ablauf. Aber Prävention? Fehlanzeige. Präsenz heißt nicht Eingreifen. Verantwortung heißt nicht Handeln. Der Staat ist da – aber eben nur körperlich.
Der Rechtsstaat hat sich zurückgezogen. Und das bedeutet: Der Kontrollverlust ist nicht nur individuell, sondern strukturell. Wer heute 17 ist, hat nie erlebt, dass Drogenkonsum ernsthafte Konsequenzen hat – gesellschaftlich nicht, strafrechtlich erst recht nicht. Der Straftatbestand ist nur noch ein Schatten seiner selbst, weil er nicht mehr geahndet wird.
Sehnsucht nach Kontrollverlust
Was treibt junge Menschen dazu, sich bis zur Bewusstlosigkeit zu berauschen? Es ist mehr als bloße Neugier. Es ist ein kollektiver Schrei nach Bedeutung. In einer Welt, in der alles möglich scheint, aber nichts mehr Halt gibt, wird der Rausch zum letzten Anker. Wer nichts mehr spürt, will wenigstens kurz alles spüren. Wer keinen Sinn mehr findet, sucht zumindest einen Rausch.
Viele feiern sich buchstäblich kaputt – weil das System keine Antworten mehr liefert. Schule lehrt Funktionieren, Politik liefert Frust, Eltern sind abwesend. Der Rausch wird zur Revolte. Nicht gegen das System – sondern gegen die innere Leere.
Der verlorene Begriff von Freiheit
Wir leben in einer Gesellschaft, die Freiheit predigt, aber Verantwortung verlernt hat. Wer heute auf einer Techno-Party zusammenbricht, wird nicht als Opfer gesehen, sondern als Kollateralschaden eines Systems, das alles erlaubt, aber nichts mehr schützt. Die mediale Debatte bleibt dünn: ein paar Schlagzeilen, ein Statement der Feuerwehr, ein Hinweis auf Überlastung im Rettungsdienst. Doch kaum jemand fragt: Wer trägt Verantwortung?
Die Clubbetreiber? Die Eltern? Die Gesellschaft? Oder am Ende doch die Jugendlichen selbst, die mit 17 kaum eine Chance hatten, sich gegen den Sog aus Gleichgültigkeit, Gruppenzwang und Selbstverleugnung zu wehren?
Was bleibt?
Was bleibt, ist ein Systemversagen – auf familiärer, rechtlicher und gesellschaftlicher Ebene. Es ist bequem, sich über „die Jugend von heute“ zu echauffieren. Doch wer in ihr nur Konsumenten sieht, hat ihre Verzweiflung nicht verstanden. Die Frage ist nicht: „Warum tun sie das?“ Sondern: „Was haben wir ihnen gegeben – oder eben nicht –, dass sie diesen Weg wählen?“
Die Berliner Partynacht „Rave The Planet“ war kein Ausrutscher. Sie ist Symptom einer Entwicklung, die längst Normalität geworden ist. Wer hinsieht, erkennt: Das Wegschießen ist kein exzessives Hobby – es ist eine stille Anklage. An uns alle.
ⓘ Bestimmte Drogen wie MDMA, Amphetamine oder synthetische Cathinone können die Bluthirnschranke durchlässiger machen oder umgehen. Das führt dazu, dass neurotoxische Substanzen ins Gehirn gelangen und dort akute oder langfristige Schäden verursachen. In Verbindung mit Überhitzung, Dehydrierung und Alkohol entsteht ein hohes Risiko für Kreislaufkollapse, Krampfanfälle oder bleibende Hirnschäden – besonders bei dauerhaftem Konsum oder Mischkonsum.
Quellen-Nachweis
– Bouso, José C. et al. (2013): „Neurotoxicity of MDMA“, Journal of Psychopharmacology
– Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): Infos zu Partydrogen – www.drugcom.de
– EMCDDA (2021): „Health and social responses to drug problems – A European guide“