und ich erkläre dich schuldig! Alle Bürger sind Täter. Wer eine Nachricht verschickt, steht unter Verdacht, noch bevor das erste Wort den Empfänger erreicht. Ein Herz-Emoji kann als Beleg für Zuneigung gelten, ein Foto als Indiz für Schuld. In der Welt der Chatkontrolle genügt der Verdacht, dass es Anlässe gibt, nachzusehen – und plötzlich ist jeder private Verlauf ein mögliches Beweisstück.
Was hinter der Chatkontrolle steckt
Die Europäische Union will ein Gesetz beschließen, das genau diesen Verdacht in Gesetzesform gießt. Es nennt sich Chatkontrolle. Dahinter steckt ein Verfahren, das technokratisch als Client-Side-Scanning bezeichnet wird und im Grunde bedeutet, dass unsere Nachrichten schon auf unserem eigenen Gerät durchleuchtet werden, bevor sie verschlüsselt verschickt werden. Das, was wir für sicher hielten, das Versprechen von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, wird damit ausgehöhlt.
Das scheinbar unanfechtbare Ziel
Offiziell geht es um ein Ziel, das kaum jemand infrage stellen würde: den Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch. Wer könnte es wagen, dagegen zu argumentieren? Und doch liegt darin die eigentliche Gefahr. Das moralisch unanfechtbare Argument dient als Rammbock, um eine digitale Mauer einzureißen, die bisher als unantastbar galt: die Privatsphäre der Kommunikation. Wieder wird der Missbrauch an Kindern als Basis für Informationsbeschaffung instrumentalisiert, begleitet von Schlagzeilen im Fünf-Minuten-Takt: Hier sei eine Plattform ausgehöhlt, dort ein Ring gesprengt. Die Suggestion, wir seien alle potenzielle Triebtäter, reicht bereits aus, um Gesetze und Verordnungen durchzupeitschen. Gerade konservative Parteien führen Sicherheit, flankiert von grellen Überschriften, ins Feld, um ihre Art der Überwachung verkaufen zu können. Wir leben im Technologiezeitalter, und genau deswegen heißen die Spitzel heute nicht mehr Stasi oder Verfassungsschutz, sondern KI und elektronische Filter.
Die Mechanik des Scannens
Die Mechanik ist einfach und perfide zugleich. Auf deinem Smartphone läuft ein Programm, das jede Nachricht mit bekannten Mustern abgleicht. Ein Bild, das eine bestimmte Pixelstruktur enthält. Ein Text, der Schlüsselworte nutzt. Ein Audiofile, dessen Frequenzmuster auffällig ist. Wird etwas gefunden, geht ein Signal an eine zentrale Stelle, und die Nachricht wird markiert. Nicht die Tat zählt, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verdacht besteht. Es wird versucht, mit Wahrscheinlichkeiten kriminelles Potenzial zu entlarven – was noch lange nicht bedeutet, dass kriminelle Energie tatsächlich freigesetzt wird. Wenn sich zwei Jugendliche im Chat darüber belustigen, wie unvorsichtig der Nachbar ist und dass man ihn gut bestehlen könnte, dann ist das noch keine Tat. Ihr Wortwitz verfliegt im selben Moment, in dem sie ihn niederschreiben. Doch die elektronischen Lauscher katalogisieren diese Worte und reihen die beiden jungen Menschen in eine Täterliste ein. Das ist keine Fiktion, das soll zur Wahrheit werden. Und genau das ist das Gefährliche an der Umsetzung des Gesetzes.
Der politische Fahrplan
Der Entwurf der Europäischen Kommission liegt seit Mai 2022 vor. Seitdem wird er zwischen Parlament, Rat und Kommission hin- und hergeschoben. Nun steht eine Entscheidung an: Am 12. September wollen die Mitgliedstaaten ihre Position finalisieren, am 14. Oktober 2025 soll die Abstimmung erfolgen. Nüchtern betrachtet ein Datum im politischen Kalender, tatsächlich aber ein Kipppunkt für die digitale Freiheit in Europa.
Der Preis der Sicherheit
Die Befürworter sprechen von einem Fortschritt im Kampf gegen Verbrechen. Kritiker sehen das Ende der Privatsphäre. Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, lange Zeit Garant für Sicherheit, verliert ihren Sinn, wenn der Text schon vor der Verschlüsselung ausgelesen wird. Es ist, als würde ein Brief geöffnet, bevor er in den Umschlag gesteckt wird. Der Empfänger mag später den versiegelten Umschlag in den Händen halten, doch der Inhalt ist längst kopiert. Der Absender hingegen glaubt, nichts Unrechtes getan zu haben, und sagt sich: „Ich schreibe ja nichts Verbotenes, also kann das Gesetz ruhig kommen.“ Doch genau hier wird Ahnungslosigkeit zur Gefahr. Das gute Gewissen des Einzelnen wird präzise analysiert, und es wird nachgesehen, ob sich nicht doch noch kriminelle Tendenzen entdecken lassen. Ein kleiner Ausbruch im Chat, nicht einmal versendet, vielleicht sogar später gelöscht – und schon könnte er als kriminalitätsrelevant bewertet werden.
Die schiefe Ebene
Damit nicht genug. Die Logik des Systems öffnet die Tür für Erweiterungen. Heute sind es Darstellungen von Missbrauch, morgen könnten es politische Inhalte sein. Regierungen, die mit der Wahrheit hadern, müssten nur die Filterlisten ändern. Wer einmal die technische Infrastruktur schafft, die flächendeckend auf allen Geräten läuft, schafft auch den Mechanismus, sie jederzeit umzuprogrammieren.
Der stille Wandel
Die eigentliche Tragik liegt darin, dass die Menschen es kaum bemerken werden. Das Scannen läuft unsichtbar im Hintergrund. Kein Signalton, keine Warnung, kein blinkendes Symbol. Nur das Wissen, dass es geschieht, verändert unser Verhalten. Wer überwacht wird, schreibt anders. Er denkt nach, bevor er ein Wort tippt. Er löscht, bevor er abschickt. Er schweigt, wo er sprechen wollte. Auf diese Weise verschiebt sich die Grenze zwischen privat und öffentlich.
Die Folgen für Journalisten
Gerade für Journalisten ist das ein Angriff auf die Arbeitsgrundlage. Quellen, die bislang auf die Vertraulichkeit ihrer Nachrichten vertrauten, werden verstummen. Wer Missstände aufdecken will, riskiert, selbst markiert zu werden. Das Prinzip der Pressefreiheit, das auf Schutz und Vertrauen basiert, verliert seine Substanz.
Europas Paradox
Die EU inszeniert sich gerne als Hüterin der Grundrechte. Sie pocht auf Datenschutz, sie wirbt mit der Charta der Grundrechte. Und doch steht sie nun kurz davor, eine Maßnahme einzuführen, die in ihrer Konsequenz autoritär ist. China braucht dafür keine Gesetze, dort geschieht Überwachung offen. Europa hingegen tarnt die Kontrolle als Schutzmaßnahme, als moralische Pflicht. Ein Paradox, das sich mit schönen Worten kaum übertünchen lässt.
Wem dient es wirklich?
Wem dient das wirklich? Den Kindern? Schwerlich, denn Täter, die entschlossen sind, werden Wege finden, die Filter zu umgehen. Den Konzernen? Sicherlich, sie können sich als Partner im Kampf gegen Missbrauch inszenieren. Den Regierungen? Unbedingt, sie erhalten Zugriff auf Datenströme, wie es ihn bislang nicht gab. Die Erfahrung zeigt: Technologien verschwinden nicht, sie verfeinern sich. Wer einmal eine Kontrollinstanz geschaffen hat, wird sie nicht mehr aufgeben.
Die Logik des Generalverdachts
Die Gefahr liegt nicht nur in der Technik, sondern im Denken, das dahintersteht. Der Gedanke, dass jeder Bürger potenziell schuldig ist, dass jeder Chat, jedes Bild, jede Nachricht Anlass für Verdacht sein kann. Es ist das Prinzip des Generalverdachts, gegossen in Algorithmen, durchgesetzt von Maschinen, legitimiert durch Politik. Wer den Film Minority Report gesehen hat, erinnert sich: Verbrechen sollen verhindert werden, bevor sie geschehen. Nun will man uns mithilfe von KI und elektronischen Helfern weismachen, dass Taten verhindert werden können, wenn nur genug Daten gesammelt und Muster erkannt werden. Das wirft die Frage auf, welche Verbindungen hier eigentlich geknüpft werden sollen. Die Software der Firma Palantir – deren Mitbegründer Peter Thiel heißt – ist längst in Deutschland im Einsatz. Polizeibehörden in Hessen, Bayern und Nordrhein-Westfalen nutzen sie, um Datenmengen aus unterschiedlichsten Quellen zusammenzuführen, mit dem Anspruch, Straftaten zu bekämpfen oder gar zu verhindern. Doch wie viel Lobbyismus steckt hinter solchen Projekten? Welche Konsequenzen hat das für die Menschen? Sicherheit jedenfalls wird so nicht gewonnen. Das Geld wäre besser investiert in Aufklärung, Bildung und Erziehung. Dann müsste niemand überwacht werden.
Ein entscheidender Oktober
Der Oktober 2025 wird entscheiden, ob Europa bereit ist, diesen Weg zu gehen. Was wie ein bürokratischer Akt daherkommt, ist in Wahrheit ein Prüfstein dafür, wie ernst wir es mit Freiheit und Demokratie meinen.
Epilog
Zeig mir deinen Chatverlauf, und ich erkläre dich schuldig. Das könnte bald mehr sein als eine zugespitzte Metapher. Es könnte die neue Realität sein. Und Europa wird sich daran messen lassen müssen, ob es die Freiheit schützt, indem es die Würde des Privaten bewahrt – oder ob es sie opfert, weil Verdacht bequemer ist als Vertrauen.
Die Grundmuster sind dabei stets die gleichen. Ob in der Kommunalpolitik gegen das Plündern einer Mülltonne polemisiert wird oder in der Bundespolitik über Terrorabwehr debattiert wird – das Schema F ist immer dasselbe. Konservative Parteien suggerieren Unsicherheit, malen den Niedergang an die Wand und zeichnen das Bild eines Landes, das angeblich krimineller ist als jedes andere. Die Botschaft dahinter lautet: Wählt uns, wir geben euch Sicherheit. Doch wie sicher ist dieses Leben tatsächlich? Gar nicht.
Statt Sicherheit schaffen wir ein Klima der Überwachung. Daten werden zusammengeführt, Muster erkannt, Menschen katalogisiert. Das ist der erste Schritt in eine Welt, in der man dir das Erlangen des Führerscheins verweigert, weil dir zehn Sozialpunkte fehlen. Wir müssen aufpassen, dass wir die Schraube nicht so weit drehen, bis sie reißt. Sicherheit ist sinnvoll, wenn sie mit Bedacht eingesetzt wird. Doch eine Gesellschaft, die ihr gesamtes Volk lückenlos überwacht, zerstört am Ende genau das, was sie bewahren wollte.
ⓘ Unter „Chatkontrolle“ versteht man den EU-Vorschlag, private Kommunikation auf Endgeräten zu durchsuchen, bevor sie verschlüsselt wird. Dieses Verfahren heißt Client-Side-Scanning und umgeht damit die bisher sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Kritiker sehen darin einen Bruch mit dem Grundrecht auf vertrauliche Kommunikation. Befürworter verweisen auf den Schutz von Kindern vor Missbrauch, doch die Technik schafft Strukturen für flächendeckende Überwachung. Die Abstimmung im Europäischen Rat ist für den 14. Oktober 2025 angesetzt.
Quellen-Nachweis
EU-Kommission: Vorschlag für eine Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern (Mai 2022)
Berichte von netzpolitik.org, heise.de, watson.de
Stellungnahmen von EDRi, CCC und Reporter ohne Grenzen